Biografischer Prolog
Als Schüler gingen wir 1958/59 in Bremen gegen den Fallout der
H-Bomben-Versuche auf die Straße. Aber nach meinem Mathematik-Diplom
1967 an der Uni Erlangen trat ich meinen 1. Job im
Siemens-Forschungszentrum Erlangen an. Unser Team war
für die Implementierung des Betriebssystems und der Compiler für die
Siemens-Prozessrechner zuständig. Auch Anwendungsprogramme haben wir
geschrieben. Ich gehörte also zur ersten deutschen Informatiker-Generation,
und darauf war ich damals mächtig stolz. Unsere Software wurde u.a.
in den ersten deutschen Kernkraftwerken
Gundremmingen,
Obrigheim und
Neckarwestheim eingesetzt.
Technologische Innovation
Ingenieure haben den Ehrgeiz, in ihrer Technologie ganz vorne zu
stehen und ihr womöglich neue Impulse zu geben. Die noch ganz junge
Software-Technologie haben wir damals bei Siemens mitgestaltet
und erlebten hautnah, wie sich diese Technologie schon ihre erste Krise nahm,
s. Dijkstra 1969:
Wir können nicht zusichern, dass unsere Software fehlerfrei ist!
Und wir wussten sehr wohl, wo unsere Software eingesetzt werden sollte.
Wir haben damals neue Verfahren der automatischen Software-Generierung
entwickelt und angewandt, um dieses
Dilemma zu entschärfen, doch auch die Generierung arbeitet mit Bausteinen,
die wir, zwar mit größter Sorgfalt, aber eben doch nur aus unseren Köpfen
(woher sonst?) niedergeschrieben haben. Immerhin sind diese Verfahren
noch heute aktuell, erleben im Web eine Renaissance, s. meine
Patentanmeldung 2001 zu Web Services.
Kooperation der Technologien
In jedem größeren Projekt werden mehrere unterschiedliche Technologien
zusammengeführt. Die Ingenieure von Technologie A verstehen wenig
oder nichts von Technologie B, und umgekehrt. So hatten wir Softwerker
zwar schon etwas Ahnung von Atomphysik, konnten jedoch mit den
Atomphysikern nicht wirklich mitreden. Umgekehrt mussten die
Atomphysiker unserer Fähigkeit vertrauen, sichere Software zu schreiben.
Wie können Ingenieure unterschiedlicher Technologie sich
gegenseitig der Beherrschung ihrer jeweiligen Technologie versichern?
Systemtechnik
Eine Binsenweisheit: Projektingenieure müssen kooperieren,
wenn sie gemeinsam ein System implementieren.
Die Meta-Technologie, mit der man das erreichen will, heißt
Systemtechnik. In ihr haben nicht mehr die Ingenieure das Sagen,
sondern die System- und Projektmanager - und deren charakteristische
Eigenschaft ist, dass sie i.a. weder zu Technologie A noch zu Technologie B
fundiertes Wissen haben; sie sind von Fall zu Fall auf spezifische
Nachhilfe der Ingenieure angewiesen.
Wie kann man zusichern, dass im Systemmanagement die richtigen
Entscheidungen getroffen werden? Was sind "richtige" Entscheidungen
und wer verantwortet sie?
Teamwork
Funktionierendes Teamwork ist notwendige Voraussetzung für die
erfolgreiche Implementierung technischer Systeme. Dabei heißt
"Funktionieren" nicht einfach nur, dass man miteinander "kann".
Teamwork hat eine klare ethische Basis: Man muss einander vertrauen,
sich gegenseitig sicher sein, dass der Partner im Team seinen
Job gut macht. Zu Teamfähigkeit gehört untrennbar das Berufsethos.
Kein soft skill ist in der Ingenieur-Ausbildung wichtiger.
Atomkraft?
Wenn es sich denn mit Technologien, Systemtechnik, Teamwork
so verhält - wie konnte es dann zu den Atomkraft-Projekten kommen?
Die Ingenieure wurden nicht gefragt.
Das ist in Großprojekten aber immer so. Selbstverständlich werden
diese auf hoher politischer bzw. Unternehmens-Ebene entschieden.
Im übrigen darf man zweifeln, ob sich mehr als eine Minderheit
an Ingenieuren gegen Atomkraft entschieden hätte. Hunderte KWU-Ingenieue
fuhren damals in Erlangen mit ihren PKWs diesen Aufkleber spazieren:
"Wozu Atomkraft? - Bei uns kommt der Strom noch aus der Steckdose!"
Wer hat denn den Start der Atomkraft in Deutschland zu verantworten?
Konkret z.B. für das erste Atomkraftwerk in Gundremmingen?
War das gar eine Unperson namens "Sachzwang"?
Kompetenz und Verantwortung
Niemand hat sich bisher die Kompetenz zugetraut, mit seiner Unterschrift
die Verantwortung für den Startschuss zur Atomkraft zu übernehmen.
Nach allem, was wir heute wissen (ich muss das hier wirklich nicht
wiederholen), ist das doch allzu verständlich - oder?
Wird Kompetenz und Verantwortung durch Sachzwang ersetzt?
Und wie funktioniert diese Lobby-Arbeit: Sachzwänge erzeugen?
Skepsis
Das KKW Obrigheim ging am 29.10.1968 erstmals, am 31.3.1969 dauerhaft
ans Netz. Es folgt eine lange Geschichte von Zwischenfällen und
entzogenen und wieder erteilten Teil-Betriebsgenehmigungen, die
hinlänglich bekannt ist. Das Erstaunliche, eigentlich Skandalöse
an dieser Geschichte ist, dass der Betreiber trotz massiven Einsatzes
seiner besten Juristen keine dauerhafte Betriebsgenehmigung
erwirken konnte! Erst 1996 - nach 28 Jahren Betrieb - wurde
die Dauerbetriebsgenehmigung erteilt, und nach weiteren 9 Jahren,
am 11.5.2005, wurde Obrigheim stillgelegt.
Was sagt uns das?
Wir haben wohl wirklich eine unabhängige Rechtsprechung.
Wenn deutschen Gerichten über 28 Jahre die Skepsis an der
Atomtechnik nicht ausgetrieben werden kann, dann nötigt das
zum einen größten Respekt ab, zum anderen überträgt sich diese
Skepsis notwendigerweise auf jeden nachdenklichen Bürger.
Zurück an den Souverän
Wenn es sich denn mit fehlender Kompetenz, nicht wahrgenommener
Verantwortung, erzwungenen Sachzwängen, notwendiger Skepsis
so verhält - was ist die Konsequenz?
Die Sache gehört zurück in die Hände des Souveräns
Ein Volksentscheid über die Abschaltung aller AKWs würde heute
in Deutschland eine Mehrheit von 88% (ZDF Umfrage am 13.3.2011)
für Abschaltung erzielen. Doch ist ein Volksentscheid überhaupt
zu legitimieren?
Der immer wieder bemühte Hinweis auf die "Inkompetenz des Mannes
auf der Straße" ist jedenfalls unangebracht - aus mindestens 2 Gründen:
Zum einen ist in Sachen Atomkraft die Kompetenz einer großen Zahl
informierter Bürger inzwischen mindestens so hoch wie die der
Entscheider in Politik und Wirtschaft.
Zum anderen ist die Beweislast umzukehren: Die Betreiber und
die Befürworter in der Politik mögen bitte endlich den Nachweis der
Unbedenklichkeit erbringen. Das ist ihnen vor Gericht nicht gelungen,
das glauben sie inzwischen selbst nicht mehr.
Und dennoch: Die Entscheidung ist in die Hände der gewählten
Parlamentarier gelegt.
Daran darf kein Weg vorbei führen. Aber: Die Parlamentarier sind
gut beraten, wenn sie sich von ihren Bürgern beraten lassen.
Also: Aktive Bürgerbeteiligung ist neu verstandene Lobby-Arbeit -
jetzt aber von beiden Seiten gewollt, aktiv und transparent gestaltet.
let's lobby!
Biografischer Epilog
Meine Rolle als "funktionierender Ingenieur" seinerzeit im Erlanger
Forschungszentrum hängt mir bis heute als Klotz am Bein.
Unser Team löste sich 1972 auf, wir alle folgten Rufen an deutsche
Universitäten und Hochschulen. In meinen 66 Semestern anschließend
als Hochschullehrer hatte ich das Leitbild
des "Ingenieurs mit Berufsethos" vor Augen, und die Hochschule Ulm
hat in ihrem
Leitbild inzwischen Berufsethos und Nachhaltigkeit als zentrale Elemente
aufgenommen.
Meinen Frieden finde ich erst heute ein wenig, sei es altershalber
oder weil die Hoffnung wuchs,
dass die Zukunft unseres Gemeinwesens durch aktive Bürgerbeteiligung
ein wenig mitgestaltet werden kann.