home · Publikationen · Thesen · Medien
Thesen

Gedanken "über die deutschen Medien, die Arbeit von Journalisten und die Berichterstattung des SPIEGEL" - anlässlich des Artikels "Die Wut der klugen Köpfe" (SPIEGEL 9/2018, S. 68 - 73)

Friedrich Pieper, 2. März 2018 - Druckversion

Mein Eindruck, das Selbstverständnis der meisten Journalisten betreffend, vorweg:

Journalisten sehen sich (und ich sie auch) als Teil der deutschen Zivilgesellschaft; sie berichten also nicht außer ihr, sondern aus ihr über sie und über globale Ereignisse; sie sind Beteiligte, und daher können sie "sagen, was ist".

Wie ich zu dieser Einschätzung kam, ist eine längere Entwicklung. In der Schule lernten wir, dass Journalisten ("Boulevard-Presse natürlich ausgenommen") einen "objektiven" Standpunkt außerhalb des Geschehens einnähmen, über das sie berichten, gewissermaßen "unbeteiligt".

Während des Studiums in den 60ern politisierten wir uns, diskutierten endlos und erhoben "intellektuelle Redlichkeit" zur Maxime. So wurde BILD zum politischen Gegner, der SPIEGEL nicht gerade zur Bibel, aber zu anerkannter Quelle mit der Aura der "Objektivität".

Aus meiner heutigen Rückschau müssen es vor allem die Gerichts-Reportagen von Gerhard Mauz gewesen sein, die mir ein anderes Bild des Journalismus vermittelten: wie Mauz sich zu einem Blick für Gerechtigkeit oftmals geradezu quälte und die Leser dabei mitnahm - da war er ein Beteiligter mit Empathie für andere Beteiligte vor Gericht. Sein Buch "Die Gerechten und die Gerichteten" ist für mich ein ebenso bedeutendes Zeitzeugnis von 1968 wie William Fulbright's "Die Arroganz der Macht".

Der Journalist als Beteiligter - das halte ich seitdem für selbstverständlich - kann's denn überhaupt anders sein? Ich sehe es als Ehrlichkeit, als unsere schon seinerzeit so hoch gehaltene intellektuelle Redlichkeit, wenn ein Journalist sich als Beteiligter zu erkennen gibt. Beispiel dafür im SPIEGEL 9/2018, S. 34: "Der Versuch" - die Flüchtlingsreportage von Katja Thimm.

Als Pendant gehört dazu aber auch eine Zivilgesellschaft, die Beteiligung als ihr gemeinsames, verbindendes Merkmal versteht und praktiziert. Wer sich in der Zivilgesellschaft engagiert (und das sind in Deutschland Millionen), ist in seinem Umfeld aus erster Hand informiert, hält Meinungsvielfalt für selbstverständlich, hält diese daher auch aus, und wird kaum ein Problem damit haben, dass Medien diese Vielfalt abbilden, erst recht nicht auf die Idee kommen, "dass ich ständig belehrt werde, was ich zu denken habe."

Und wenn Nicht-Leser Artus Krohn-Grimberghe (S. 69) meint, genau dieses Vorurteil für sich reklamieren zu müssen, ohne es "als Wissenschaftler" (!) kritisch zu hinterfragen, so stellt er sich damit ein bizarres Selbstzeugnis von Arroganz und Ignoranz aus. Schließlich verzichtet er in seinem Elfenbeinturm, Marke Eigenbau, ja freiwillig ("Zeitmangel" ist eine wohlfeile Ausrede) auf die Teilnahme an der Zivilgesellschaft.

Ex-Leser Hartmut Richter (S. 71) dagegen kann ich verstehen; seine Kritik bildet manche Diskussion in meiner Patchwork Großfamilie (darin u.a. 2 selbständige Handwerker) ähnlich ab. Hauptkritikpunkt - meist auch so pauschal artikuliert: Vieles, was die Menschen direkt bewegt, ist in den Medien Marginalie oder kommt gar nicht vor - und wenn's denn mal vorkommt, dann mit Tendenz. Mein eigener Eindruck ist's nicht; ich gestehe Journalisten (auch von meiner abweichende) Meinungen, gelegentlich auch Irrtümer (habe ich denn Recht??) zu.

Was Menschen direkt bewegt, hat häufig lokalen Bezug, und dann ist die lokale Presse gefragt - sie kann und sollte sich als Speerspitze der lokalen Zivilgesellschaft engagieren. Deshalb gefällt mir die Glaubwürdigkeits-Initiative von Claudia Bockholt in der Mittelbayrischen Zeitung sehr (S. 73), und ich wünsche ihr, dass ihr Engagement viele Nachahmer findet.

Meine positive Meinung zu Medien und Zivilgesellschaft ist sicherlich auch geprägt durch meine Erfahrungen in Ulm. Die Ulmer SÜDWEST PRESSE (SWP) hat 1971 die "Aktion 100.000" begonnen, damals mit der ehrgeizigen Zielsetzung, jährlich mindestens 100.000 DM an Spenden für soziale Projekte einzuwerben. Inzwischen ist die Spendensumme auf fast 15 Millionen EURO angewachsen, und die SWP peilt heuer erstmals ein Jahresergebnis von 1 Million an - und das in Deutschlands kleinster Großstadt! Unzählige Projekte wurden gefördert und natürlich auch publizistisch begleitet - und natürlich wird die SWP in Ulm als Speerspitze der Ulmer Zivilgesellschaft wahrgenommen (nicht nur von mir, Preuße, seit 1972 mit schwäbischem Migrationsvordergrund, in der Ulmer Zivilgesellschaft inzwischen verwurzelt).

Abschließend noch ein paar Anmerkungen zu Repräsentanten der recht öffentlichen TV Medien in Deutschland, deren Nachrichtensendungen und Magazine ich täglich konsumiere:

Claus Kleber: für mich der profilierteste beteiligte Journalist des deutschen TV.

Marietta Slomka: nicht minder profiliert, mit der besten Sprachbildung (ich verstehe sie mühelos auch ohne Hörgeräte).

Bettina Schausten: schätze ich ebenfalls sehr, auch wenn sie sich kürzlich in "Berlin direkt" von A.M. einlullen und zur Hofberichterstatterin degradieren ließ.

Thomas Walde: den 3 Vorgenannten nicht annähernd ebenbürtig; erinnert mich zu sehr an einen Klassenkameraden, ebenfalls Journalist, der zwar viel beachtete Reportagen aus der DDR, dann aus Neu5land veröffentlicht hat, dessen Narzissmus mich aber seit über 50 Jahren nervt.

Maybrit Illner, Sandra Maischberger, e.a.: ihr Bemühen, in diversen Talkshows noch diversere Gäste in deren Selbstdarstellungstrieb zu domestizieren, hat was Rührendes. Die dort behandelten Themen sind gelegentlich sogar von gewissem Interesse.

Mein Appell an den SPIEGEL: weiterhin "sagen, was ist"!