Multikulturelle Gesellschaft Deutschland
Thesen zum politischen Forum in der vh ulm
mit Cem Özdemir am 8. Mai 2002
Der hier vorgelegte Text ist eine Zusammenstellung von Gelerntem, Beobachtungen und
Schlussfolgerungen, entstanden in der Bildungstradition unseres Landes,
gemessen an neuen Erfahrungen, gewiss nicht mehr und nicht weniger als meine subjektive Sicht,
daher formuliert als Sammlung von Thesen.
A Deutsche Geschichte
A.1 Deutschland war bis ins 19. Jahrhundert immer eine Ansammlung unterschiedlicher ethnischer,
kultureller, konfessioneller Gruppen.
Diese Gruppen haben ebenso über Jahrhunderte friedlich zusammengelebt, wie sie sich bis
aufs Blut bekämpft haben. Sie waren Spielball innerer und äußerer Machtinteressen und
spielten ebenso oft selbst beherrschende Rollen.
Es gab in Deutschland Gettos ebenso wie offene Koexistenz gleichzeitig und nebeneinander
über lange Zeiträume. So entstand kulturelle Vielfalt aus Jahrhunderten Tradition.
A.2 Gleichwohl war Deutschland nie eine multi-kulturelle Gesellschaft,
die kulturelle Vielfalt bewusst gepflegt oder als erhaltenswert bewahrt hat.
Nicht nur gab es zu selten und über zu kurze Epochen weitsichtige Bewahrer kultureller Vielfalt,
es gab auch nur zu oft entschiedene Gegner.
A.3 Ohnehin fehlten bürgerliche Grundrechte als notwendige Voraussetzung für eine
lebendige multi-kulturelle Gesellschaft.
Der erste deutsche Nationalstaat 1871 brachte zwar bescheidene bürgerliche Grundrechte,
ist aber nicht gerade als Förderer kultureller Vielfalt in Erscheinung getreten.
Den Nationalsozialismus als primitivste Sekte, die die Welt je sah, im Kontext kultureller
Vielfalt überhaupt zu erwähnen, verböte sich von selbst. Er ist aber Verursacher
der Stunde Null und bleibt uns daher als Schatten in kollektiver Erinnerung.
Die nachhaltigste äußere Wirkung der Stunde Null war eine gründliche Durchmischung
aller gesellschaftlichen Gruppen in Mitteleuropa.
A.4 Eine innere Wirkung der Stunde Null in dem Sinne, dass in Deutschland Toleranz
gegenüber anderen Gruppen und Sensibilität für die Pflege kultureller Vielfalt entstanden sei,
ist nur in bescheidenem Maße eingetreten.
Auch die Wiedervereinigung hat eine solche Wirkung nicht gehabt, im Gegenteil:
A.5 Die Wiedervereinigung hat die politischen Folgen der Stunde Null endgültig klar gemacht;
sie hat aber die Bereitschaft für Toleranz und kulturelle Vielfalt in Deutschland
eher vermindert als gefördert.
Man ist versucht, in dieser Hinsicht eine Parallele zu 1871 zu sehen.
Dennoch das Fazit:
A.6 Die historischen Voraussetzungen für eine langfristig positive multi-kulturelle
Entwicklung dürften kaum anderswo günstiger sein als in Deutschland.
B Vorbilder?
Auf der Suche nach Vorbildern multi-kultureller Koexistenz in historischer und globaler
Dimension findet man nur wenige positive Beispiele neben einer überwältigenden Anzahl
Beispielen für Verhinderung, Vernichtung oder Ablehnung des „multi-kulti“-Konzepts.
B.1 Das Römische Reich bot seinen Bürgern vielfacher Nationalität über einen beachtlich
langen Zeitraum ein beachtliches Maß an rechtlicher Sicherheit und kultureller Autonomie.
Allerdings blieben große Gruppen ausgeschlossen (sie wurden statt dessen versklavt),
und die römische Staatsräson verlangte rigoros Vorrang vor allen Religionen und Philosophien.
Die Christen wurden nicht wegen ihrer Religion verfolgt, sondern wegen ihrer
Ablehnung der römischen Staatsräson.
Die kulturelle Dominanz der Griechen kontrastierte mit ihrem Status als
„Bürger zweiter Klasse“ oder gar als Sklaven.
B.2 Das Römische Reich war deshalb keine wirklich multi-kulturelle Gesellschaft,
weil es großen Teilen seiner Staatsbürger wesentliche Bürgerrechte vorenthielt.
B.3 Gleichwohl gab es seit dem Römischen Reich keine vergleichbar lange Epoche mit einer
vergleichbar weit gehenden Koexistenz kultureller Vielfalt.
Das sizilianische Reich des Hohenstaufen-Kaisers Friedrich II. scheiterte mit seinem Konzept
einer Koexistenz von Islam und Christentum an rivalisierenden Interessen anderer
zeitgenössischer Mächte.
Das so genannte „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ hatte schon wegen seiner
einseitigen Fixierung auf die Römische Kirche nie ein wirklich multi-kulturelles Konzept.
B.4 Das Osmanische Reich konnte schon deshalb keine multi-kulturelle Alternative zu Europa sein,
weil es über Jahrhunderte mit Europa über die Vorherrschaft in der Alten Welt rang.
Wegen dieses Konflikts gab es über Jahrhunderte keine Chance einer multi-kulturellen
Entwicklung, die eine friedliche Koexistenz zwischen Christentum und Islam einschloss.
B.5 Europa hat bis in die Neuzeit weitaus mehr Beispiele militanter Intoleranz gegenüber
kultureller Andersartigkeit als für multi-kulturelle Koexistenz geboten.
Aber auch später wurde das nicht besser:
B.6 Aufklärung und Französische Revolution hatten keine multi-kulturelle Zielsetzung
(jedenfalls nicht in erster Linie).
Einzelne Highlights (wie z.B. die Aufnahme verschiedener Emigrantengruppen in
verschiedenen europäischen Ländern – z.B. Hugenotten in Preußen) sind temporär
und ändern diese Diagnose nicht nachhaltig.
B.7 Die USA haben trotz ihrer liberalen Verfassung die Hoffnungen der Einwanderer auf
friedliche Koexistenz der Gruppen verschiedener ethnischer, religiöser oder kultureller
Herkunft nicht erfüllt.
Schon der Ausrottungskrieg gegen die Ureinwohner widersprach dem Grundgedanken
multi-kultureller Koexistenz; die Sklaverei sprach ihm Hohn, und auch der um
diese Frage geführte Sezessionskrieg hat die USA damit nicht zu einem multi-kulturellem
Vorbild für die Welt gemacht.
Wir beobachten heute in den USA massive Formen der Abschottung einzelner Gruppen,
sei es, weil sie es sich finanziell leisten können, sei es, weil sie ein
elitäres Selbstbewusstsein entwickelt haben. Und in US-amerikanischen Großstädten
ist die Gettoisierung ethnischer Gruppen auch mehrere Generationen nach der
Einwanderung ein vertrautes Bild.
Der von vielen US-Amerikanern mit Sendungsbewusstsein in die Welt getragene
„American Way of Life“ überzeugt kaum irgendwo auf der Welt nachhaltig.
Es ist auch zweifelhaft, ob diese Lebensphilosophie hinter der Oberflächlichkeit,
mit der sie wahrgenommen wird, ein Konzept multi-kultureller Koexistenz verbirgt.
B.8 Das heutige Europa ist auch keine Oase friedlicher multi-kultureller Koexistenz.
Selbst die gigantische Völkerwanderung im Gefolge des 2. Weltkriegs
(60 Millionen Menschen verloren ihre Heimat – jeder 7. Europäer)
hat mit der zwangsläufigen Durchmischung verschiedenster ethnischer und kultureller
Gruppen keine nachhaltige multi-kulturelle Koexistenz bewirkt.
Es gibt auch heute in Europa offenbar immer noch mehr Beispiele dafür,
dass Nachbarn ihre Jahrhunderte alte Feindschaft nicht vergessen können, als für Verzeihen.
In diesem Zusammenhang:
B.9 Der Gewaltverzicht der deutschen Vertriebenen in der "Charta der deutschen Heimatvertriebenen"
(Stuttgart, 5. August 1950) wird bis heute nicht angemessen gewürdigt.
Doch hat Abwesenheit von Gewalt noch nichts mit multi-kultureller Koexistenz zu tun.
Ein besonders lehrreiches Beispiel ist Sarajevo:
Sarajevo war über fast 50 Jahre ein Musterbeispiel multi-kultureller Koexistenz.
Dennoch nahm hier der Bosnien-Krieg seinen Anfang.
Einer Clique von Soziologen und Psychologen der Belgrader Akademie der Wissenschaften
gelang es mit einem teuflischen Plan, die Bürger Sarajevos gegen deren Willen
aufeinander zu hetzen. Die Lehre:
B.10 Auch eine intakte multi-kulturelle Koexistenz bietet keine Garantie
gegen intolerante Sabotage.
B.11 Multi-kulturelle Koexistenz befindet sich in ständiger Lebensgefahr.
Fazit:
B.12 In Geschichte und Gegenwart war und ist Abschottung und Intoleranz für die
Mehrheit der Menschen weitaus attraktiver als multi-kulturelle Koexistenz.
C wozu?
Wenn diese Diagnose zutrifft – wozu treten wir dann ein für die Utopie einer
multi-kulturellen Koexistenz?
Wenn wir nicht als Weltverbesserer in Vergessenheit geraten wollen, müssen wir
handfeste Gründe vortragen können, die es einer Mehrheit attraktiv erscheinen lassen,
ebenfalls für Multi-Kulti einzutreten.
Alle großen Probleme, die die Menschheit in nächster Zukunft zu bewältigen hat,
hängen zusammen mit der Bevölkerungsexplosion. Die demographische Entwicklung der
Industrieländer, insbesondere in Europa, ist jedoch gegenläufig.
Die großen europäischen Industrieländer, allen voran Deutschland,
sind auf Zuwanderung angewiesen.
Gleichzeitig wächst der Einwanderungsdruck, und diese Tendenz wird sich in Zukunft
dramatisch verstärken, weil immer mehr verzweifelte Menschen aus Hunger und Armut
in den Wohlstand fliehen wollen. Die Europäische Union schottet schon heute ihre
Außengrenzen rigoros ab.
C.1 Die rigide Begrenzung der Zuwanderung wird in allen Mitgliedsländern der EU
mit der Wahrung des sozialen Friedens begründet.
Gewiss wird eine massenhafte unkontrollierte Zuwanderung die sozialen Strukturen sprengen,
also den sozialen Frieden stören. Gewiss sind aber auch Zweifel erlaubt, ob eine rigide
Abschottung oder eine strenge Selektion der erwünschten Personen unter humanitären
Gesichtspunkten angemessen sind.
C.2 Die rigide Begrenzung der Zuwanderung steht offensichtlich im Widerspruch zum
Ziel multi-kultureller Koexistenz.
Also brauchen die so genannten entwickelten Länder ein Konzept,
das ihnen mit einer kontrollierten Zuwanderung den sozialen Frieden sichert und
gleichzeitig den Widerspruch der humanitär unfriedlichen Abweisung unerwünschter
Zuwanderung auflöst. Schon die nächsten Jahre werden die Notwendigkeit eines solchen
Konzepts dramatisch aufzeigen.
Dieses Konzept heißt „Multi-Kulti“.
C.3 Nur multi-kulturelle Gesellschaften können die künftigen Probleme verstärkter
Völkerwanderung angemessen lösen.
z.B. kann die Frage des Nachzugs von Familienangehörigen nur dann im Konsens gelöst werden,
wenn die Familie hier integriert lebt. Dies zeigen konkrete Beispiele von Nachbarschafts-Engagement
schon heute.
Es scheint paradox: Multi-kulturelle Koexistenz macht Gesellschaften attraktiver für Zuwanderung,
aber ohne multi-kulturelle Koexistenz wird keine Gesellschaft ihr Zuwanderungsproblem lösen.
Natürlich ist die Entwicklung einer multi-kulturellen Gesellschaft nicht so ausschließlich
mit der Zuwanderungsfrage verknüpft.
C.4 Multi-kulturelle Koexistenz ist der substanzielle Kern jeder Gesellschaft.
Die abgeschottete Sekte ist ein Auslaufmodell von gestern? Das wäre zu schön.
Es wird diese Fundamentalisten leider weiterhin geben, und sie werden weiterhin den
Menschen in ihrem Einflussbereich Formen auch staatlichen Zusammenlebens aufzwingen,
die von Intoleranz und Ausgrenzung geprägt sind.
C.5 Intoleranz und Ausgrenzung werden die hauptsächlichen Ursachen der schlimmsten Konflikte
in nächster Zukunft sein.
Kann es noch schlimmer kommen als es in vergangenen Jahrhunderten und in jüngster Geschichte
schon war?
Eine internationale Anti-Terror-Koalition, die so genannte Schurkenstaaten mit
kriegerischen Mitteln von gestern bekämpft, wird derartige Konflikte nicht lösen.
Es gibt nur eine Strategie mit nachhaltig Konflikt lösender Wirkung:
C.6 Nur eine internationale Koalition multi-kultureller Koexistenz kann uns hoffen lassen,
die Konflikte von heute und morgen lösen zu können.
Soweit die ordnungspolitische bzw. pragmatische Antwort auf die Frage
„wozu brauchen wir Multi-Kulti?“.
Trotz aller Erfahrungen mit Kreuzzügen etc. etc. sollte aber auch erinnert werden:
C.7 Es gibt in der ethischen Tradition von Christentum und Islam keine Begründung für
Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen anderen Glaubens.
(auch von den anderen Weltreligionen ist mir nichts gegenteiliges bekannt).
Das Gebot der Nächstenliebe im Neuen Testament begrenzt diese ausdrücklich nicht auf Menschen
gleichen Glaubens.
Und auch im Koran gilt das Gebot der Toleranz auch für Menschen anderen Glaubens.
D Deutsche Gegenwart
D.1 Die deutsche Verfassung bietet eine gute Grundlage für multi-kulturelle
Koexistenz in Deutschland.
Da alle politischen Parteien des öfteren beteuern, fest auf dem „Boden des Grundgesetzes“
zu stehen, können wir ja zufrieden sein?
D.2 Politische Streitkultur ist die wichtigste öffentliche Erscheinungsform einer
intakten multi-kulturellen Koexistenz.
Damit steht es in Deutschland nicht zum besten.
Ausgerechnet die Zuwanderungsfrage wird so widerwärtig instrumentalisiert,
als wollten die beteiligten öffentlichen Personen den Beweis erbringen,
dass Deutschland noch meilenweit von multi-kultureller Koexistenz entfernt ist.
Die Streithähne haben nichts begriffen.
D.3 Die öffentliche Multi-Kulti Debatte wird in Deutschland überwiegend formalistisch geführt.
Inhalte kommen zu kurz, konkrete Probleme werden nicht gelöst.
Über der jahrelangen Diskussion formaler Fragen wie
Nachzugsalter von Kindern,
wie ist diese oder jene gesetzliche Regelung oder Verwaltungsmaßnahme zu verschlimmbessern?
wer bezahlt welche Integrationsmaßnahme?
ist diese oder jene Organisation noch verfassungstreu?
bleiben die inhaltlichen Werte multi-kultureller Koexistenz verborgen und werden nicht
Bestandteil öffentlichen Bewusstseins. Schlimmer noch: konkrete Probleme, die sich
vergleichsweise einfach lösen ließen, werden nicht angepackt.
Beispiele:
Verbesserung der Sprachausbildung z.B. jugendlicher Spätaussiedler,
Integration im Kindergartenalter,
Vollständige Übernahme des Religionsunterrichts durch öffentliche Schulen,
Ausbildungsangebote für Schulabgänger,
Integration nicht berufstätiger Frauen.
Fazit:
D.4 Statt Grundwert an sich wird multi-kulturelle Koexistenz in der deutschen öffentlichen
Meinung allenfalls als nobles Add-on empfunden, das man Gästen großzügig gewährt,
selbst aber eigentlich nicht benötigt.
E Ziele
E.1 Multi-kulturelle Koexistenz ist als Grundwert unserer Verfassung tief im
öffentlichen Bewusstsein verankert.
E.2 Konkrete Inhalte multi-kultureller Koexistenz sind fester Bestandteil des öffentlichen
Lebens auf allen gesellschaftlichen Ebenen, von den Menschen wahrgenommen als unverzichtbare
Bürgerrechte.
Wenn Bürgerrechte diesen Stellenwert haben, kann die Gesellschaft auch Pflichten auferlegen:
E.3 Integration in das gesellschaftliche Leben wird wie Schulpflicht eingefordert und
selbstverständlich angenommen.
z.B.: Türkische Väter schicken ihre deutschen Töchter nicht mehr zur Aufzucht in die Türkei.
E.4 Deutschland erlebt eine neue politische Streitkultur.
E.5 Eine „internationale Charta multi-kultureller Koexistenz“ erreicht die Verbindlichkeit
der Genfer Konvention.
E.6 Multi-kulturelle Koexistenz wird unumkehrbar.
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