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Bildung ohne Barrieren
Thesen zum politischen Forum in der vh ulm
am 29. November 2006
Friedrich Pieper
I. Bildung - die wichtigste Aufgabe jeder Gesellschaft
Wenn Menschen über mehrere Generationen zusammen leben, dann entsteht ein
soziales Gefüge, das wir Gesellschaft nennen und das sich durch Kontinuität
über Generationen hinweg definiert. Die Summe der kontinuierlich angesammelten Erfahrungen
nennen wir Kultur.
Damit eine Gesellschaft ihre Kultur bewahrt und so auch ihren künftigen
Zusammenhalt sichert, muss sie ihre Kultur tradieren, d.h. jeder neuen Generation
ihre traditionellen Werte, d.h. ihre Tradition vermitteln. Diesen Vorgang
nennen wir Bildung - doch unter Bildung verstehen wir - vor allem
die junge Generation - noch mehr: denn jede junge Generation - wenn sie nicht apathisch darauf
verzichtet - will mehr: sie will ihre Gesellschaft verändern und voranbringen - sie will
Innovation.
- ohne Tradition keine Innovation.
- ohne Innovation keine Zukunft der Gesellschaft
- Bildung ist Tradition und Innovation.
- Bildung ist überlebenswichtig für jede Gesellschaft.
II. Sprache - der Schlüssel zur Bildung
Kein anderes Merkmal definiert den Menschen so zutreffend als intelligentes
Wesen wie seine Fähigkeit zur Sprache. Seit Jahrtausenden - solange es eine kulturelle
Überlieferung gibt - bedienen sich Menschen der Sprache, um sich untereinander zu
verständigen und sich der Nachwelt mitzuteilen.
Wie anders hätte es Tradierung geben können? Wo immer der Mensch sich als allen anderen
Lebewesen überlegen - als "homo sapiens" - dargestellt hat, tat er dies mit Hinweis auf
seine Fähigkeit zur Sprache.
- Verstand und Sprache sind zwei Seiten einer Medaille.
Sprach- und Gehirnforscher sehen die Sprache als direktes Spiegelbild
der Fähigkeiten des Gehirns, und umgekehrt halten sie es für unmöglich, dass der Mensch
seine Intelligenz ohne Sprache entfalten könne. Bei allen babylonischen Sprachbarrieren,
die die auf der Welt gesprochenen Sprachen trennen mögen, haben sie alle eine
gemeinsame Eigenschaft:
- Jede von Menschen gesprochene Sprache ist unendlich kreativ,
d.h. jeder Mensch kann in seiner Muttersprache ganz neue Sätze bilden,
die noch niemand vor ihm gesprochen hat. Nie ist menschliche Sprache
vollständig, nie ist "das letzte Wort gesprochen", nie ist Sprache vollkommen.
- ein Kind gilt daher dann als sprachfähig, wenn es diese
Sprachkreativität für sich erfunden hat.
Beispiele:
"ich will einen Mamagei haben"
"die Kerze lichtet mein Bilderbuch"
"Papa, ich kann schneller warten als du!"
(Katrin nach ihrem 1. Tag im schwäbischen Kindergarten, als
die Kindergärtnerin ihr wohl gesagt hatte:
"wart' mal g'schwind")
Die Sprachforscher und Mathematiker bezeichnen diese unendliche
Kreativität unserer Sprache(n) präziser als generative bzw.
rekursive Grammatik,
und die Informatiker haben genau diese Fähigkeit auch den Programmiersprachen
für Computer mitgegeben - mit allen Konsequenzen für unsere Kultur.
Aus unendlicher Kreativität der Sprache oder
(von der anderen Seite der Medaille gesehen) aus unserer Fähigkeit des
unbegrenzten Denkens folgt offensichtlich:
- so lange ein Mensch bei Verstand ist, wird er Neues denken können.
- nie wird er die Vollkommenheit seiner Sprache erreichen.
- Deshalb lernen wir lebenslang - wir können gar nicht anders.
- Bildung beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod.
(Auch wenn es - scheinbar - nicht zum Thema Bildung gehört, muss ich hier
anmerken: unser grenzenloser Verstand führt uns erbarmungslos zur Einsicht
in die Grenzen unseres Denkens, zur Einsicht in unsere Winzigkeit vor Gott.
Martin Luther hat das sinngemäß etwa so auf den Punkt gebracht: Die Größe
des Menschen liegt in der Beschränktheit seines Geistes und macht sein Herz
demütig vor Gott)
Im weitesten Sinne organisiert also eine Gesellschaft in ihrem
Bildungssystem das lebenslange Lernen ihrer Mitglieder. In der öffentlichen politischen
Diskussion wird das Thema "Bildung" in Deutschland zunehmend unter dem Gesichtspunkt
der Effizienz erörtert: wie kann man mit dem eingesetzten Geld einen möglichst
hohen Wirkungsgrad erzielen? Diese Blickrichtung ist sicher wichtig und soll
unseren Bildungspolitikern keineswegs verwehrt werden. Mir scheint aber ein
anderer Blickwinkel grundsätzlich wichtig zu sein:
- wie können wir allen Menschen in unserer Gesellschaft einen Zugang
zu Bildung ermöglichen, so dass jeder Mensch dauerhaft eine faire Chance
hat, sich seinen Möglichkeiten entsprechend zu bilden und damit am
gesellschaftlichen Leben teilzunehmen?
- Dies ist die Frage nach Bildungsgerechtigkeit.
- und damit stellt sich die Frage nach den Barrieren,
die einem gerechten Zugang zu Bildung im Wege stehen.
III. was ist Barrierefreiheit?
"Barrierefreiheit bedeutet die uneingeschränkte Nutzung von Gegenständen,
Gebrauchsgütern, Objekten und Informationen durch alle Menschen über denselben Zugangsweg.
Eine Zugänglichkeit über alternative Zugangswege gilt dabei nicht als barrierefrei,
es sei denn, es sind damit keine besonderen Erschwernisse verbunden, z.B. zeitlich oder räumlich."
(WIKIPEDIA - die freie Enzyklopädie im Web)
Es liegt nahe, diese Definition auf das Bildungssystem einer
Gesellschaft zu übertragen, natürlich sinngemäß erweitert. Die Zugangswege
sind dann nicht rollstuhlgerechte Rampen, sondern z.B. institutioneller Art, und
Erschwernisse sind nicht immer leicht zu sehen, haben aber durchaus handfeste
Wirkung.
IV. Barrieren in unserem Bildungssystem
Unser Bildungssystem stammt aus der Zeit der industriellen
Klassengesellschaft und spiegelt daher noch heute ein Verständnis wider, das die
Bedürfnisse von Bildungsschichten definiert und befriedigt:
- Grund- und Hauptschule
- Real- und Berufsschule
- Gymnasium
- Hochschule und Universität
Natürlich ist der Blickwinkel auf die Bildungsschichten
heute längst nicht mehr dominant, und es ist unbestritten, dass dieses
Bildungssystem ein beachtliches breites Bildungs-Niveau bewirkt hat.
So hat das deutsche duale Ausbildungssystem von Berufsschulen und Betrieben
international einen hervorragenden Ruf und wurde vielfach kopiert.
Und das Analphabetentum ist natürlich kein dominantes Thema mehr.
Ebenso ist klar, dass eine Einheitsschule vom ABC-Schützen bis
zum promovierten Wissenschaftler völliger Unsinn wäre.
Fragen wir daher nach den Barrieren, die Kindern, Schülern und Studenten im heutigen
Bildungsalltag das Leben schwer machen:
- mangelnde Sprachkompetenz bei der Einschulung
- zu frühe Festlegung auf einen Schultyp (bei vielen Schülern stellt sich erst
Jahre nach einem möglichen Wechsel z.B. aufs Gymnasium heraus, dass dies
die geeignete Schule gewesen wäre).
- Schüler, die in einer Schulart scheitern, werden unzureichend
aufgefangen (Gymnasiasten, die die Versetzung in Klasse 10 nicht schaffen,
haben i.d.R. nicht einmal den Hauptschulabschluß).
- "Sitzenbleiben" bedeutet nachhaltiges Scheitern.
(s. dazu:
Klaus-Jürgen Tillmann zum Thema "Sitzenbleiben")
- Die Hochschulreife ist für Quereinsteiger (2. Bildungsweg)
zu schwer erreichbar.
- Kapazitätsprobleme "angesagter" Schulen, Studiengänge etc.
- Berufs-vorbereitende Schulen müssen Bewerber in Scharen
abweisen - trotz guter Berufsaussichten ihrer Absolventen
(z.B. Valckenburg-Schule).
- Numerus clausus bei Studiengängen mit besten Berufsaussichten
(seit ca. 20 Jahren können z.B. die Informatik-Studiengänge der HS Ulm
zeitweise nicht einmal 20% der Bewerber aufnehmen).
- Lehrstellen-Mangel
- mangelnde Betreuung bei Hausaufgaben bzw. fehlende Ganztages-Angebote
für individuelles und soziales Lernen.
Die genannten Defizite und Barrieren sind seit langem bekannt, und man versucht
auch, Abhilfe zu schaffen. Das wichtigste Feld, in dem Abhilfe dringend geboten
ist, ist sicher die Sprachförderung im Kindesalter. Auch hier gibt es Barrieren:
- zu hohe Kindergartengebühren (in Ulm werden nach wie vor ca. 25% der
Gesamtkosten für die KiTas durch Elternbeiträge gedeckt) - gemessen
an der selbstverständlichen Schulgeldfreiheit ein Anachronismus.
- starres System der Buchung von Betreuungszeiten (1 Jahr im Voraus müssen
Eltern die tägliche Betreuung in der KiTa buchen - mit entsprechender
Kostenwirkung).
- unzureichender Personalschlüssel. Für wirkliche Sprachförderung
(und nicht nur "Betreuung"!) fehlt es in den KiTas an Personal und
Ausbildung.
- zu wenige KiTa-Plätze. Dass Ulm eine "Bedarfsdeckung" von 100% nennen
kann, liegt nur daran, dass nicht mehr Betreuung gebucht wird. Wenn alle
Kinder in die KiTas kämen, hätten die Ulmer KiTas ein erhebliches Kapazitätsproblem.
V. Barrieren in unserer Gesellschaft
Was hindert die geistige und politische Elite unseres Landes daran,
die bekannten Defizite unseres Bildungssystems zu beheben? Schon vor 40 Jahren beschrieb
Georg Picht "die Deutsche Bildungskatastrophe", und als Gesellschaft und Politik darauf
reagieren wollten, verkrochen sich viele in den noch heute bekannten ideologischen
Schützengräben. Man gab (damals noch reichlich vorhandenes) Geld aus ohne Konzept.
Man wickelte 1990 die KiTas der DDR aus Ideologie-Verdacht ab, ohne Konzepte
zu entwickeln, wie man diese ideologiefrei hätte weiterführen können. Als jetzt die erste PISA-Studie
weiterhin erhebliche Defizite erbarmungslos aufdeckte, reagierte Gesellschaft und Politik
wie schon vor 40 Jahren wiederum ohne Konzept mit (dieses Mal geringeren) Geldern aus der
Gießkanne.
Die Berliner Rede des Bundespräsidenten vom 21. September 2006:
"Bildung für alle" - nicht nur meiner Meinung die mit Abstand beste Rede seiner bisherigen
Amtszeit - verhallte bis heute ohne Resonanz. Und im Schlusssatz seiner Rede fragt auch er:
"was hindert uns?"
- Die schlimmste Barriere ist Interesselosigkeit. Bildung
hat in unserem Lande keine Lobby.
- Zeitmangel. Wer kein Interesse hat, opfert auch keine Zeit.
Die Entwicklungsschritte von Kindern kommen aber zu ihrer Zeit, und genau dann
muss ihnen Zeit geschenkt werden, um sie zu fordern und zu fördern.
- Bildung geht unter im Kompetenz-Gerangel zwischen Bund und Ländern.
- Auch Bildungs-Budgets stehen unter Kostendruck, werden wider jeden Sachverstand
gekürzt und gedeckelt.
- überfällige politische Entscheidungen bleiben aus:
- Grundschulen gehören wie KiTas unter die Hoheit der Kommunen;
alles, was Bildung bis - z.B. - zum 12. Lebensjahr betrifft,
ist in den Händen der Kommune am besten aufgehoben.
- Schulpflicht und Schulgeldfreiheit müßten für KiTas ab dem 3. oder 4. Lebensjahr
gelten.
- die systematische Sprachbildung in Spiel und Umgang müßte verbindlich
werden, schon deshalb, um die inkompetenten Forderungen mancher
Politiker nach Sprachkursen für Kinder endlich nicht mehr hören zu müssen.
- Übergang vom Kindergarten in die Schule - in Pilotprojekten längst
erfolgreich erprobt - müßte für alle Kinder verbindlich werden.
- der Ganztagesbetrieb in den Schulen - ebenfalls in Pilotprojekten
längst erfolgreich erprobt - müßte zur Regel werden.
- Interessengruppen, die sich einer durchgreifenden Schul- und Hochschul-
Reform widersetzen. Mittlerweile wagt es kein Politiker mehr, gegen diese
Interessen die Durchsetzung dringend nötiger Reformen wenigstens zu versuchen.
VI. Barrieren in unseren Köpfen
Die Gesellschaft stellt sich dar als Spiegelbild der Meinungen und Handlungen ihrer
Mitglieder, und das gilt besonders für die Barrieren, die sich ihre Mitglieder - aus
welchen Gründen auch immer, ob absichtlich oder nicht - gegenseitig in den Weg legen.
Diese Barrieren sind das Spiegelbild dessen, was sich in den Köpfen der Menschen an
Ängsten, Gewohnheiten, Neid oder gar Hass angesammelt hat. Das zu beurteilen und
nach Möglichkeit zu ändern, sollte man nicht Psychologen überlassen (sie mögen das
aber gern kommentieren und erklären), das müssen wir schon selbst erledigen.
- schlimmste Barriere auch in unseren Köpfen ist Interesselosigkeit.
Wer keine Zeit aufbringen mag, um Kinder zu fordern und zu fördern,
muss sich fragen: wozu denn dann leben und Zeit haben?
- Freudlosigkeit. Kinder, die nicht gefördert, gefordert, geliebt
werden, verlieren Freude am Lernen und am Leben.
- eine der wirksamsten Barrieren scheint die Gewohnheit zu sein.
Man lebt mit diesem oder jenem Zustand - beispielsweise unserem Schulsystem -
schon seit Generationen und kann sich kaum etwas anderes vorstellen.
- eine weitere Barriere ist die Bequemlichkeit.
- Stellvertretung kann sich sehr hemmend auswirken. Wenn kompetente
Menschen mir Entscheidungen abnehmen, wird das schon richtig und vor
allem für mich bequem sein.
- Paradoxerweise kann daher Kompetenz eine sehr wirksame Barriere sein.
wenn ich anderen Menschen gegenüber kompetent erscheine, vielleicht
sogar wirklich kompetent bin, wird man meine Ratschläge gern befolgen.
Es scheint zuweilen, als würden Bildungsexperten manchmal genau diese Wirkung
erzielen.
- Tradition kann sich als massive Barriere auswirken - dann nämlich, wenn
sie nicht der tradierten Kultur, also unseren Bildungsinhalten entspricht.
So können sich über Generationen Parallelgesellschaften mit eigener
Tradition bilden.
- Egoismus und Respektlosigkeit bilden besonders schwer zu brechende
Barrieren mit fatalen Auswirkungen in der Familie. Respektlosigkeit
gegenüber Kindern - d.h. deren vitale Bedürfnisse werden ignoriert -
ist besonders schlimm, weil Kinder sich nicht wehren können und den
Respekt der Elterngeneration so dringend für eine gesunde Entwicklung
bräuchten.
VII. Die Utopie Barriere-freier Bildung
- Jeder Mensch erfährt von Geburt an Liebe,
Zuwendung, Respekt, Zeit, Förderung, gibt dies anderen Menschen zurück
und tut mit Freude, was sie von ihm fordern.
- Eltern, Kinderhort und Kindergarten geben gemeinsam alle Zeit, die
das Kind für seine gesunde sprachliche und soziale Entwicklung braucht.
- Schule fördert und fordert jedes Kind entsprechend seinen
Fähigkeiten und führt es zu seinem optimalen Schulabschluß.
- Jeder Mensch findet seinen optimalen Platz in Beruf und Gesellschaft
und kann von seiner Hände oder seines Kopfes Arbeit leben.
- Die Kommunen brauchen nur noch ein minimales Sozialhilfe-Budget.
- Die Polizei hat kaum zu tun und verteilt nur noch Knöllchen.
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