Fundamentalismus
Banalisierung der Philosopie und Politisierung der Religion?
Norwegens Antwort: die kategorische Demokratie
Friedrich Pieper, 29. Juli 20112
Prolog
Sollte man das Massaker von Utøya als Untat eines Verwirrten abtun, sich
weigern, dessen wirres Manifest zur Kenntnis zu nehmen? Am 28. Juli gab
die norwegische Justiz eine Antwort: Der Prozess gegen Breivik wird erst
2012 beginnen, und ihm wird für jede/n Ermordete/n einzeln der Prozess
gemacht werden. So erhält jedes Opfer seine eigene Würdigung. Und Breivik
wird das in seiner eiskalten Maske nicht durchstehen.
Und auf gleiche Weise verdienen die Werte unserer Kultur eine Würdigung.
Fundamentalismus
Die norwegische Polizei charakterisierte Breivik als
"christlichen Fundamentalisten". Was ist Fundamentalismus?
Am 19. Oktober 2005 referierte der Frankfurter Theologe Prof. D. Martin
Stöhr im politischen forum der vh ulm zum Thema
"Die Politisierung der Religion im Zeitalter des Fundamentalismus":
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Fundamentalisten sehen sich im Besitz "letzter Wahrheiten" und
leiten für sich daraus privilegierte Rechte gegenüber allen
anderen Menschen ab, die diesen "Wahrheiten" nicht glauben
(wollen); mit diesen Privilegien legitimieren sie auch Gewalt.
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Mit dem 20. Jahrhundert begann das Zeitalter des Fundamentalismus
in Gestalt des Faschismus und des Kommunismus.
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Zu Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt der religiöse Fundamentalismus
deutlich zu, und er strebt nach politischem Einfluß.
Der Begriff "Fundamentalismus" geht zurück auf die 1910 von
Presbyterianern erstmals veröffentlichte Zeitschrift "The Fundamentals".
Kants "Kritik der reinen Vernunft"
Breivik beruft sich in seinem obstrusen Manifest auch auf die
"Kritik der reinen Vernunft" von Immanuel Kant (Königsberg, 1724-1804),
veröffentlicht 1781. Schon der 1. Satz der KrV - seither
tausendfach zitiert von Generationen von Philosophen, Studenten, Adepten:
„Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung
ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht
abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst
aufgegeben, die sie aber nicht beantworten kann; denn sie übersteigen
alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“
schliesst jeden fundamentalistischen Denkansatz kategorisch
aus, so dass man Breivik hier pure Angeberei unterstellen, ihm jedenfalls
nicht zutrauen möchte, schon diesen ersten Satz gelesen, geschweige denn,
verstanden zu haben.
Luthers Verständnis der Vernunft
Luthers "95 Thesen", die er am 31. Oktober 1517 an die Schlosskirche zu
Wittenberg nagelte, begründeten die Reformation. Weniger bekannt sind
seine 40 Thesen "Disputatio de Homine", die er 1536 veröffentlichte.
Die 10. These hat mich 1964 in der Sommer-Uni des Evangelischen Studienwerks
Villigst geradezu elektrisiert (hier frei übersetzt):
"und gleichwohl, dass sie von solcher Majestät
sei, weiß die Vernunft nicht von vornherein, sondern nur nachträglich".
Im Kontext: die Vernunft, nach Luthers Verständnis von Gott dem Menschen
gegeben, verleiht dem Menschen Größe ("majestas"), doch gleichzeitig Einsicht
in seine Grenzen.
Wer sich auf die Reformation beruft, kann ernsthaft keinen religiösen
Fundamentalismus begründen.
Die Bergpredigt
(Mt 5-7) gilt mit Recht als Dokument religiöser Toleranz und Nächstenliebe.
"Die Berglehre hat als jüdisches Kulturgut, das Jesus so auch verankert
(er hebe die Tora nicht auf, sondern erfülle diese), die christliche Religion,
viele Denker und andere Religionen maßgeblich beeinflusst. Für heutige liberale
Juden hat diese Berglehre Jesu den Charakter einer jüdischen Lehre und
Auslegung der antiken Tradition und der Tora und ist deshalb für jüdische
Hörer annehmbar" (Wikipedia).
Der Koran
ist in unzähligen Suren ebenso ein Dokument religiöser Toleranz. Ich bitte meine
muslimischen Freunde, mich hier mit Zitaten kompetent zu unterstützen.
Kants Kategorischer Imperativ
"Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich
als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne".
("Kritik der praktischen Vernunft", 1788)
gilt bis heute als Grundlage areligiöser Ethik, anerkannt auch von
Theologen, denn es sei eben nicht so, dass der Verzicht auf Religion
den Menschen notwendig in ethisch-moralische Beliebigkeit stürze.
Die Banalisierung der Philosophie
hat es natürlich immer schon gegeben. Sie wurde im 19. Jahrhundert
seicht und salonfähig (Rassenideologie, Sozialdarwinismus, Materialismus,
polemischer Atheismus, verbreitet auch von bis heute populären Adepten),
und sie nahm im 20. Jahrhundert gespenstische Züge und mit der primitivsten
aller Sekten, der Nazi-Ideologie, apokalyptische Ausmaße an.
Wie kann es sein, dass Menschen sich auf große Philosophen berufen,
dabei aber ihren Verstand so offensichtlich ausschalten, dass man
ihnen nicht einmal zugute halten kann, sie hätten keinen?
Wie kann dieser Breivik behaupten, die abendländische Kultur verteidigen
zu müssen, wo er sie doch gerade dabei so mit Füßen tritt?
Es ist keine Perversion zu schlimm, als dass sich nicht ein Mensch
fände, sie in die Tat umzusetzen.
Die kategorische Demokratie
Kant hat seinen kategorischen Imperativ (KI) - vor über 200 Jahren,
während der französischen Revolution - nicht in einen gesellschaftlichen
oder politischen Kontext gestellt, obwohl der KI essentiell politisch
ist. Die Geschichte lehrt uns, dass der KI den politischen
Kontext notwendig braucht.
Die Maximen des Handelns müssen im Konsens
einer demokratischen Gesellschaft gefunden werden und zu einer Gesetzgebung
führen, die in der Gesellschaft auch durchgesetzt wird: es sind die
gültigen ethischen Kategorien der Gesellschaft.
In diesen Tagen können wir die kategorische Demokratie in Norwegen
bewundern.
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