home · Publikationen · Thesen · der Tellerrand der Ingenieure
Thesen

Der Tellerrand der Ingenieure

Gedanken anläßlich des GAU in Japan

Friedrich Pieper, 14. März 2011

Druckversion

Biografischer Prolog
Als Schüler gingen wir 1958/59 in Bremen gegen den Fallout der H-Bomben-Versuche auf die Straße. Aber nach meinem Mathematik-Diplom 1967 an der Uni Erlangen trat ich meinen 1. Job im Siemens-Forschungszentrum Erlangen an. Unser Team war für die Implementierung des Betriebssystems und der Compiler für die Siemens-Prozessrechner zuständig. Auch Anwendungsprogramme haben wir geschrieben. Ich gehörte also zur ersten deutschen Informatiker-Generation, und darauf war ich damals mächtig stolz. Unsere Software wurde u.a. in den ersten deutschen Kernkraftwerken Gundremmingen, Obrigheim und Neckarwestheim eingesetzt.

Technologische Innovation
Ingenieure haben den Ehrgeiz, in ihrer Technologie ganz vorne zu stehen und ihr womöglich neue Impulse zu geben. Die noch ganz junge Software-Technologie haben wir damals bei Siemens mitgestaltet und erlebten hautnah, wie sich diese Technologie schon ihre erste Krise nahm, s. Dijkstra 1969:
Wir können nicht zusichern, dass unsere Software fehlerfrei ist!
Und wir wussten sehr wohl, wo unsere Software eingesetzt werden sollte. Wir haben damals neue Verfahren der automatischen Software-Generierung entwickelt und angewandt, um dieses Dilemma zu entschärfen, doch auch die Generierung arbeitet mit Bausteinen, die wir, zwar mit größter Sorgfalt, aber eben doch nur aus unseren Köpfen (woher sonst?) niedergeschrieben haben. Immerhin sind diese Verfahren noch heute aktuell, erleben im Web eine Renaissance, s. meine Patentanmeldung 2001 zu Web Services.

Kooperation der Technologien
In jedem größeren Projekt werden mehrere unterschiedliche Technologien zusammengeführt. Die Ingenieure von Technologie A verstehen wenig oder nichts von Technologie B, und umgekehrt. So hatten wir Softwerker zwar schon etwas Ahnung von Atomphysik, konnten jedoch mit den Atomphysikern nicht wirklich mitreden. Umgekehrt mussten die Atomphysiker unserer Fähigkeit vertrauen, sichere Software zu schreiben.
Wie können Ingenieure unterschiedlicher Technologie sich gegenseitig der Beherrschung ihrer jeweiligen Technologie versichern?

Systemtechnik
Eine Binsenweisheit: Projektingenieure müssen kooperieren, wenn sie gemeinsam ein System implementieren. Die Meta-Technologie, mit der man das erreichen will, heißt Systemtechnik. In ihr haben nicht mehr die Ingenieure das Sagen, sondern die System- und Projektmanager - und deren charakteristische Eigenschaft ist, dass sie i.a. weder zu Technologie A noch zu Technologie B fundiertes Wissen haben; sie sind von Fall zu Fall auf spezifische Nachhilfe der Ingenieure angewiesen.
Wie kann man zusichern, dass im Systemmanagement die richtigen Entscheidungen getroffen werden? Was sind "richtige" Entscheidungen und wer verantwortet sie?

Teamwork
Funktionierendes Teamwork ist notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Implementierung technischer Systeme. Dabei heißt "Funktionieren" nicht einfach nur, dass man miteinander "kann". Teamwork hat eine klare ethische Basis: Man muss einander vertrauen, sich gegenseitig sicher sein, dass der Partner im Team seinen Job gut macht. Zu Teamfähigkeit gehört untrennbar das Berufsethos. Kein soft skill ist in der Ingenieur-Ausbildung wichtiger.

Atomkraft?
Wenn es sich denn mit Technologien, Systemtechnik, Teamwork so verhält - wie konnte es dann zu den Atomkraft-Projekten kommen?
Die Ingenieure wurden nicht gefragt.
Das ist in Großprojekten aber immer so. Selbstverständlich werden diese auf hoher politischer bzw. Unternehmens-Ebene entschieden. Im übrigen darf man zweifeln, ob sich mehr als eine Minderheit an Ingenieuren gegen Atomkraft entschieden hätte. Hunderte KWU-Ingenieue fuhren damals in Erlangen mit ihren PKWs diesen Aufkleber spazieren: "Wozu Atomkraft? - Bei uns kommt der Strom noch aus der Steckdose!"
Wer hat denn den Start der Atomkraft in Deutschland zu verantworten? Konkret z.B. für das erste Atomkraftwerk in Gundremmingen? War das gar eine Unperson namens "Sachzwang"?

Kompetenz und Verantwortung
Niemand hat sich bisher die Kompetenz zugetraut, mit seiner Unterschrift die Verantwortung für den Startschuss zur Atomkraft zu übernehmen. Nach allem, was wir heute wissen (ich muss das hier wirklich nicht wiederholen), ist das doch allzu verständlich - oder?
Wird Kompetenz und Verantwortung durch Sachzwang ersetzt?
Und wie funktioniert diese Lobby-Arbeit: Sachzwänge erzeugen?

Skepsis
Das KKW Obrigheim ging am 29.10.1968 erstmals, am 31.3.1969 dauerhaft ans Netz. Es folgt eine lange Geschichte von Zwischenfällen und entzogenen und wieder erteilten Teil-Betriebsgenehmigungen, die hinlänglich bekannt ist. Das Erstaunliche, eigentlich Skandalöse an dieser Geschichte ist, dass der Betreiber trotz massiven Einsatzes seiner besten Juristen keine dauerhafte Betriebsgenehmigung erwirken konnte! Erst 1996 - nach 28 Jahren Betrieb - wurde die Dauerbetriebsgenehmigung erteilt, und nach weiteren 9 Jahren, am 11.5.2005, wurde Obrigheim stillgelegt.
Was sagt uns das?
Wir haben wohl wirklich eine unabhängige Rechtsprechung. Wenn deutschen Gerichten über 28 Jahre die Skepsis an der Atomtechnik nicht ausgetrieben werden kann, dann nötigt das zum einen größten Respekt ab, zum anderen überträgt sich diese Skepsis notwendigerweise auf jeden nachdenklichen Bürger.

Zurück an den Souverän
Wenn es sich denn mit fehlender Kompetenz, nicht wahrgenommener Verantwortung, erzwungenen Sachzwängen, notwendiger Skepsis so verhält - was ist die Konsequenz?
Die Sache gehört zurück in die Hände des Souveräns
Ein Volksentscheid über die Abschaltung aller AKWs würde heute in Deutschland eine Mehrheit von 88% (ZDF Umfrage am 13.3.2011) für Abschaltung erzielen. Doch ist ein Volksentscheid überhaupt zu legitimieren?
Der immer wieder bemühte Hinweis auf die "Inkompetenz des Mannes auf der Straße" ist jedenfalls unangebracht - aus mindestens 2 Gründen:
Zum einen ist in Sachen Atomkraft die Kompetenz einer großen Zahl informierter Bürger inzwischen mindestens so hoch wie die der Entscheider in Politik und Wirtschaft.
Zum anderen ist die Beweislast umzukehren: Die Betreiber und die Befürworter in der Politik mögen bitte endlich den Nachweis der Unbedenklichkeit erbringen. Das ist ihnen vor Gericht nicht gelungen, das glauben sie inzwischen selbst nicht mehr.
Und dennoch: Die Entscheidung ist in die Hände der gewählten Parlamentarier gelegt.
Daran darf kein Weg vorbei führen. Aber: Die Parlamentarier sind gut beraten, wenn sie sich von ihren Bürgern beraten lassen.
Also: Aktive Bürgerbeteiligung ist neu verstandene Lobby-Arbeit - jetzt aber von beiden Seiten gewollt, aktiv und transparent gestaltet. let's lobby!

Biografischer Epilog
Meine Rolle als "funktionierender Ingenieur" seinerzeit im Erlanger Forschungszentrum hängt mir bis heute als Klotz am Bein. Unser Team löste sich 1972 auf, wir alle folgten Rufen an deutsche Universitäten und Hochschulen. In meinen 66 Semestern anschließend als Hochschullehrer hatte ich das Leitbild des "Ingenieurs mit Berufsethos" vor Augen, und die Hochschule Ulm hat in ihrem Leitbild inzwischen Berufsethos und Nachhaltigkeit als zentrale Elemente aufgenommen.
Meinen Frieden finde ich erst heute ein wenig, sei es altershalber oder weil die Hoffnung wuchs, dass die Zukunft unseres Gemeinwesens durch aktive Bürgerbeteiligung ein wenig mitgestaltet werden kann.