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Thesen

Konzept für ein Paten-Netzwerk

Nachhaltige Unterstützung der Ulmer Bildungsoffensive
herausgegeben vom AK "Bildung" der Lokalen Agenda 21 der Stadt Ulm
Ulm, 21. Januar 2008

Autoren: Veronika Adam, Winfried Bauer, Gottfried Baumann, Gisela v. Canal, Gisela Glück-Gross, Hatice Güler-Meisel, Walter Leibersberger, Barbara Münch, Friedrich Pieper, Petra Schmitz.
Redaktion: Friedrich Pieper.
Kopieren mit Quellenangabe gestattet. Druckversion

Inhalt

Präambel
1 Bestandsaufnahme
1.1 Anstöße - 1.2 ein Anstoß: zu wenige Migranten zum Abitur - 1.3 Bildung mit Barrieren - 1.4 Barriereopfer ohne Bildungskarriere - 1.5 Informations- und Beratungsbedarf - 1.6 Rückhalt im Sozialraum - 1.7 optimaler Bildungsabschluss - 1.8 das Ziel: Berufsfähigkeit
2 Beratungskonzept
2.1 Erziehungspartnerschaft - 2.2 Begleitung der Bildungsbiografie jedes Kindes - 2.3 bedarfsgerechte, nachhaltige und verlässliche Hilfe - 2.4 institutionelle Verankerung
3 Umsetzung
3.1 biografische Mappe - 3.2 tragende Rolle der Klassenlehrer - 3.3 Berater als Paten-Netzwerk - 3.4 Verankerung im Sozialraum - 3.5 muttersprachliche Beratung der Eltern - 3.6 Datenschutz - 3.7 Schulung - 3.8 städtische Koordinierungsstelle - 3.9 Startphase
4 politische Rahmenbedingungen
4.1 Bildungsberatung als kommunale Kernaufgabe - 4.2 Ulmer Bildungsoffensive - 4.3 Sparen für Bildung
5 Quellen

Präambel

Die Bildungsbiografie jedes Kindes - von der Kita bis zum Schulabschluss - wird nachhaltig begleitet. Alle beteiligten Institutionen und Personen arbeiten Hand in Hand, sorgen für

  • ein intaktes Umfeld,
  • Integration im Sozialraum,
  • gegenseitigen respektvollen Umgang

und sehen sich in der gemeinsamen Verpflichtung, das Kind zu seinem optimalen Bildungsabschluss zu führen, damit es seinen Platz in der Gesellschaft finden und selbst wieder die empfangene Zuwendung der nächsten Generation zurückgeben kann.

1. Bestandsaufnahme

1.1 Anstöße

Nicht erst seit PISA, sondern seit Jahren, seit Jahrzehnten (s. Georg Picht: "Die deutsche Bildungskatastrophe", 1964) nehmen Menschen, die sich um die Bildung in Deutschland sorgen, Anstoß an zahlreichen Defiziten des deutschen Bildungssystems:

  • erkannte Defizite in Bildungsbiografien werden nicht nachhaltig behoben; hier sind insbesondere sprachliche und Defizite in der Sozialisation zu nennen - seit langem bekannt, jedoch nicht einmal halbherzig angegangen.
  • zahlreiche Bildungsbiografien scheitern; abgebrochene Bildungskarrieren sind trauriger Alltag.
  • eine Hauptursache abgebrochener Bildungskarrieren - die Selektion im dreigliedrigen Schulsystem - ist seit Jahrzehnten politisch tabu.
  • der Übergang Schule - Berufsausbildung ist in vielen Bildungsbiografien ein nachhaltiger, Existenz bedrohender Bruch. Dass viele Hauptschüler keinen Ausbildungsplatz finden, ist seit Jahren skandalöse Normalität.

1.2 ein Anstoß: zu wenige Migranten zum Abitur

Im Sommer 2006 setzte der Arbeitskreis "Bildung" der Lokalen Agenda 21 in Ulm auf Anregung von Rolf Gütlein (Kepler-Gymnasium, Abendgymnasium) dieses Thema auf seine Tagesordnung und lud dazu u.a. Vertreter der Deutsch-Türkischen Gesellschaft Ulm ein. Rolf Gütlein wollte den Ursachen für die eklatante Unterrepräsentierung von Abiturienten mit Migrationshintergrund in Ulm auf die Spur kommen.

Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil und verglichen mit der Anzahl deutschstämmiger Schüler macht fast überall in Deutschland nur ein Bruchteil der Migrantenkinder das Abitur.

Wenn man - selbstverständlich - davon ausgeht, dass im Durchschnitt einer Altersgruppe das Begabungsprofil nahezu unabhängig ist von der ethnischen Herkunft, dann wird man kulturelle Gründe, sprachliche Defizite und mangelnde Integration als Hauptursachen vermuten.

Die Ergebnisse der PISA-Studien zeigten aber, dass auch bei den deutsch-stämmigen Schülern die Abiturquote deutlich geringer ist als im europäischen Vergleich - und wiederum darf man wohl davon ausgehen, dass deutsche Schüler im Durchschnitt nicht dümmer sind als andere in Europa.

Anstoß zu nehmen an Integrationsdefiziten greift also zu kurz; die Ursachen liegen viel tiefer.

1.3 Bildung mit Barrieren

Wer einmal ernsthaft versucht, sich z.B. im deutschen Bildungsserver (s.a. Quellen) umfassend über ein bestimmtes Bildungsthema zu informieren, wird an der Informationsfülle schier verzweifeln. Was haben wir doch für ein überwältigend buntes, vielfältiges Bildungssystem - einzigartig auf der Welt. Man versteht im Nachhinein, wie gütig sich doch das Schicksal einst mit der eigenen Bildungskarriere zeigte.

Die Barrieren erfährt erst, wer über sie stolpert; sie hier zu analysieren, erforderte eine eigene Denkschrift; einige seien doch erwähnt:

  • fehlende Sprachförderung
  • fehlende individuelle Beratung
  • fehlende individuelle Förderung
  • Selektion in Schultypen
  • fehlendes Auffangnetz für gescheiterte Selektion
  • Bürokratie

S. dazu z.B. die pointierten Kommentare von Antje Berg in der SWP: "der Auslese-Terror" (22.6.2007) oder "kümmerliches Stückwerk" (27.6.2007) oder das Interview mit Prof. Tillmann "Spitze im Scheitern" (1.8.2006) (s.a. Quellen: DTG). Das politische Forum am 29. Nov. 2006 in der vh ulm "Bildung ohne Barrieren? - wie Migranten in Ulm ihren Weg machen - Biografien" setzte sich mit diesem Thema auf Anregung des AK Bildung auseinander (mit Brigitte Röder - Schulleiterin Kepler-Gymnasium, Rolf Gütlein, Kepler-Gymnasium, und Hatice Güler-Meisel - Kontaktstelle der Stadt Ulm für Migranten - s.a. Quellen: DTG).

1.4 Barriereopfer ohne Bildungskarriere

Die Bildungsbiografien von Barriereopfern zeigen erschreckend deutlich immer wieder den plötzlichen Abbruch der Bildungskarriere. Unter "Bildungskarriere" verstehen wir den geradlinigen Weg eines jeden Menschen zu dem für ihn optimalen Bildungsabschluss.

Ziel der Bildungspolitik ist zweifellos, jede Bildungskarriere zum erfolgreichen Abschluss zu bringen.

Der Abbruch der Bildungskarriere ist für das Opfer eine persönliche Katastrophe und für die Bildungspolitik ein Scheitern.

Wir beschreiben das hier bewusst mit sehr dürren Worten, weil wir jede weitergehende Bewertung vermeiden wollen. Zu lange schon wird die Bildungsdebatte um Prinzipien geführt. Auch wenn man sich noch so sehr eine Strukturreform des deutschen Bildungssystems wünschen mag - zu allererst geht es doch darum, jetzt begonnene Bildungskarrieren erfolgreich zum Abschluss zu führen.

Jede weitere abgebrochene Bildungskarriere ist eine zu viel.

1.5 Informations- und Beratungsbedarf

Am Beispiel fast jeder abgebrochenen Bildungskarriere kann man nachweisen, was im konkreten Einzelfall hätte getan werden können bzw. müssen, um das Scheitern zu vermeiden, und in fast jedem Einzelfall zeigt sich, dass den Betroffenen diese konkreten Möglichkeiten, das Scheitern zu vermeiden, nicht oder nicht rechtzeitig bekannt waren.

Es ist offensichtlich, dass den Betroffenen die nötigen Informationen zur Planung und Bewältigung ihrer Bildungskarriere vermittelt werden müssen, und dass dies nur in persönlichen Beratungsgesprächen möglich ist.

Angesichts der komplexen Strukturen unseres Bildungssystems wird ein solches Beratungsangebot umso dringlicher.

Die Bildungspolitik ist sogar in der Pflicht, dieses Beratungsangebot zur Verfügung zu stellen - hat sie doch selbst die komplexen Strukturen geschaffen und muss sie doch ihr oberstes Ziel, den erfolgreichen Abschluss aller Bildungskarrieren, unbedingt erreichen wollen.

Zu den "gefährdeten" Bildungskarrieren zählen wir auch diejenigen, die ein unklares Ziel haben. Wer beispielsweise nicht gefordert wird, dem (bzw. dessen Eltern) kann ein anspruchsvolleres Ziel empfohlen werden.

Wir wollen aber auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, indem wir "flächendeckende Beratung" einführen. Eltern und Kindern, die mit ihren Bildungskarrieren im Reinen sind, soll keineswegs Beratung aufgenötigt werden.

1.6 Rückhalt im Sozialraum

Als "Sozialraum" bezeichnet man ein überschaubares soziales Umfeld in einem Stadtteil einer Großstadt, gewissermaßen das "Dorf in der Stadt" (s. Quellen: "Jugendhilfe": Fachtag vom 10.02.2004 in Ulm). Ein Sozialraum erfüllt gestaltende und schützende Funktionen für elementare soziale Beziehungen. Die Kommunalpolitik hat daher die nachhaltige Unterstützung dieser Funktionen als wichtiges Ziel erkannt. Es ist offensichtlich so, dass

  • Bildung Rückhalt im Sozialraum haben muss; dies gilt insbesondere für Kindertagesstätten, Grund- und Hauptschulen - sie können ohne Anker im Sozialraum nicht funktionieren;
  • diese Bildungsstätten eine Grundlage des Sozialraums überhaupt sind;
  • Sozialraum-Gestaltung daher ein Bildungsziel an sich ist;
  • soziale Verantwortung und Gestaltungswille primär hier zu vermitteln sind.

Für die Sozialisation von Kindern (wie auch von Erwachsenen) ist der Sozialraum eine Umgebung, wie sie konkreter kaum sein kann. Schulfeste, Stadtteilfeste, Sportwettkämpfe mit anderen Sozialräumen, Nachbarschaftskontakte u.v.m. sind die Grundlage für ein "wir"-Gefühl, das sich nirgendwo sonst so etablieren kann.

1.7 optimaler Bildungsabschluss

Kinder werden über mindestens 10 Jahre - den wichtigsten Jahren ihres Lebens - von der Gesellschaft in die Schulpflicht genommen.

Als Gegenleistung hat die Gesellschaft die Pflicht, die Kinder in dieser Zeit nach Kräften zu bilden, zu fordern und zu fördern, um ihnen das Rüstzeug für ein erfolgreiches und sie voll befriedigendes Leben in dieser Gesellschaft mitzugeben.

Wiederum als Gegenleistung hierfür wird der junge Mensch sich in der Gesellschaft wohl fühlen und für sie Wertvolles leisten.

Es ist Aufgabe der Bildungspolitik, diesen wichtigsten aller Generationenverträge einer Gesellschaft tatkräftig umzusetzen, und das heißt:

Jeder junge Mensch soll den für ihn optimalen
- d.h. seine Fähigkeiten am besten entfaltenden -
Bildungsabschluss erreichen.

Wir nannten dies das vorrangige Ziel der Bildungspolitik; nach dem zuvor Gesagten ist es überhaupt das wichtigste politische Ziel einer jeden Gesellschaft. Vor dem Hintergrund dieser Binsenweisheit fällt es schwer, für ideologisch geführte Bildungsdebatten Verständnis aufzubringen.

1.8 das Ziel: Berufsfähigkeit

In ihrem letzten Schuljahr wurde die Klasse 9a der Martin-Schaffner-Schule von der SWP begleitet mit dem Ziel, dass alle Schüler mit ihrem Schulabschluss auch einen Ausbildungsplatz oder anderen Berufseinstieg haben sollten. Dies gelang unter großen Anstrengungen, s. Bericht "Die Glückskinder der 9a" vom 26. Juli, sowie dazu noch einmal ein Kommentar "Lehrstellenmisere" am 4. September 2007 zu Beginn des Ausbildungsjahres, jeweils in der SWP (s.a. Quellen: DTG).

Wäre es nicht selbstverständlich, das für alle Schulabgänger erreichen zu wollen, ja müssen?

Der Generationenvertrag lässt doch keinen Zweifel:
Das Bildungsziel ist erst erreicht, wenn der junge Mensch seine erste berufliche Qualifikation erreicht hat, also seinen Platz in der Gesellschaft in eigener Selbstverwirklichung finden kann.

2 Beratungskonzept

2.1 Erziehungspartnerschaft

Der Orientierungsplan für die Kindergärten in Baden-Württemberg definiert die Erziehungspartnerschaft als Basis der Bildungsbiografie:

"Im Interesse einer kontinuierlichen Bildungsbiografie des Kindes betont er die Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Eltern und eine weitergehende Verzahnung von Kindergarten und Grundschule. Für diese Bildungs- und Erziehungspartnerschaften erhalten Eltern, sozialpädagogische Fachkräfte und die Lehrkräfte der Grundschule Impulse und Hilfestellungen" (s. Quellen: Kultusportal, sowie DTG: pol. Forum vom 12. April 2006 in der vh ulm mit der Fachreferentin Elisabeth Sailer-Glaser, Abt. Städtische KiTa-Einrichtungen, hier: bbb-ulm/publikationen).

Die Erziehungspartnerschaft bleibt auch später die Basis der Bildungsbiografie, und es ist überaus wichtig, dass diese Basis schon im Kindergarten begründet und dass sie anschließend in der Schule nahtlos beibehalten wird.

2.2 Begleitung der Bildungsbiografie jedes Kindes

"Erziehung ist Beziehung" (Gisela Glück-Gross am 16. Juli 2007 im AK Bildung, s.a. Quellen: Sitzungsprotokolle AK Bildung), also wird stets selbstverständlich angenommen, dass die Bildungsbiografie jedes Kindes ihren Rückhalt im Elternhaus habe.

Jedes Kind wird aber auch in die Schulpflicht genommen (s. 1.5), woraus folgt, dass auch die Schule die Beziehung zum Kind pflegen muss. Gisela Glück-Gross: "der Weg zum Kind führt nur über die Eltern, der Weg zu den Eltern nur über das Kind".

Also ist evident: Schule und Elternhaus begleiten gleichermaßen die Bildungsbiografie.

Für die Eltern, aber mit wachsendem Alter auch für das Kind ist die Erfahrung überaus wichtig, dass die Lehrer die Biografie kennen, sie verlässlich dokumentiert übernehmen können, wenn sie z.B. eine Klasse neu übernehmen, kurz, dass die Schule die Biografie jedes Kindes genauso selbstverständlich kennt und begleitet wie die Eltern dies tun.

Und evident ist auch: die Bildungsbiografie spiegelt sich nicht allein im Schulzeugnis wider.

Wenn dies für jedes Kind in intakten familiären Beziehungen gilt, wie viel mehr hat das zu gelten, wenn die Schule auf kein intaktes Familienumfeld trifft.

Wir stellen das hier nur einmal fest, ohne uns an wechselseitigen Schuldzuweisungen zwischen Elternhaus und Schule beteiligen zu wollen.

Institutionelle Begleitung der Bildungsbiografie heißt konkret, dass man sich selbstverständlich regelmäßig trifft und miteinander redet. So werden rechtzeitig Gefahren erkannt und abgewendet.

2.3 bedarfsgerechte, nachhaltige und verlässliche Hilfe

Wenn alle, die sich der Erziehung eines Kindes annehmen, dessen Bildungsbiografie kontinuierlich begleiten, dann können sie gemeinsam reagieren und helfen.

Die Hilfe muss bedarfsgerecht sein, d.h. sie muss den Bedürfnissen des Kindes gerecht werden; das kann bedeuten, dass man sich lange und intensiv Gedanken machen und um eine Lösung auch kämpfen wollen muss.

Die Hilfe muss nachhaltig sein, d.h. sie muss ein erkanntes Problem wirklich lösen, und die Lösung muss für das Kind auch nachvollziehbar sein und von ihm gewollt werden.

Die Hilfe muss verlässlich sein, d.h. gerade in einer Krisensituation, die vom Kind als bedrohlich und im Scheitern als Katastrophe empfunden wird, muss es sich auf seine Bezugspersonen verlassen können - wann sonst?

2.4 institutionelle Verankerung

Biografische Begleitung und Hilfsangebot im Krisenfall müssen aus mindestens zwei Gründen institutionell verankert sein:

Zum einen brauchen Elternhaus und Kind kontinuierlich einen verlässlichen Partner, wie dargelegt.

Zum anderen aber ist diese Institution die Lebensversicherung des Kindes in seiner Bildungsbiografie.

In diesem Zusammenhang ist evident:
Pilotprojekte mit einer Laufzeit von 2, höchstens 3 Jahren können die hier konzipierte Begleitung von Bildungsbiografien keinesfalls leisten. Die in Pilotprojekten gesammelten Erfahrungen mögen nützlich sein - sie bringen aber erst Nutzen, wenn sie anschließend nachhaltig umgesetzt werden.

3 Umsetzung

3.1 biografische Mappe

Für jedes Kind wird eine biografische Mappe geführt; diese Mappe ergänzt Notenblätter und Zeugnis um nicht mit Noten messbare, aber wichtige biografische Daten und Notizen.

Die biografische Mappe ist Grundlage für Gespräche zwischen Eltern und Lehrern. Es ist selbstverständlich, dass die Eltern jederzeit diese Mappe einsehen können, und dass sie ein inhaltliches Mitspracherecht haben.

Angelegt ist die biografische Dokumentation bereits im zitierten Orientierungsplan für die Kindergärten, und Erzieherinnen werden schon gezielt darin geschult, wie sie Kinder beobachten und deren wesentliche Bildungsfortschritte dokumentieren sollen (Qualifizierungsprogramm, S. 14-17, s. Quellen).

Was auf den ersten Blick als bürokratischer Aufwand erscheinen mag, erweist sich tatsächlich als wirksame Hilfe in der Bildungsbiografie (s. Bericht von Doris Fuchs, Leiterin des Kindergartens am Sudetenweg in Böfingen, vor dem Jugendhilfe-Ausschuss des Ulmer Gemeinderats am 27. April 2006, sowie Carolin Stüwe in der SWP vom 29. April 2006, s.a. Quellen: DTG Pressespiegel).

Es bietet sich an, die biografische Mappe für jedes Kind zumindest so lange weiter zu führen, bis die wichtigen Entscheidungen in der Bildungsbiografie gefallen sind, also die Bildungskarriere ihr Ziel hat.

3.2 tragende Rolle der Klassenlehrer

Die Führung der biografischen Mappen wird in den Aufgabenbereich der Klassenlehrer fallen; dies muss sich im Deputat niederschlagen.

Die Gespräche im Rahmen der hier vorgetragenen Bildungsberatung sollten mit ihren Ergebnissen ebenfalls in der biografischen Mappe dokumentiert werden.

Daraus ergeben sich Fragen des Datenschutzes (s. 3.6).

3.3 Berater als Paten-Netzwerk

Die Erfahrungen aus verschiedenen Pilotprojekten in der Bildungsberatung wurden im AK Bildung intensiv erörtert.

In mehreren Sitzungen berichtete Winfried Bauer, Schulleiter der Eduard Mörike Schule in Böfingen, ausführlich über die Elterngespräche in und im Umfeld seiner Schule. So habe beispielsweise Frau Bogdashkina, AWO, Schulsozialarbeiterin an der Mörike-Schule, Aussiedlerfamilien aus der ehemaligen Sowjetunion betreut, Elterinitiativen sich um andere Migrantengruppen gekümmert. Im Ergebnis seien nahezu alle Eltern erreicht worden.

Am 16. Juli 2007 berichtete Gisela von Canal über das Weststadt-Projekt (Träger: Sanierungstreuhand, Begleitung: Markus Kienle), in welchem türkisch-stämmige Kinder in ihrer Bildungsbiografie begleitet wurden.

Wenn es diesen Projekten, wie in 2.4 begründet, auch an Nachhaltigkeit mangelt, so zeigen sie doch positiv die Chancen einer bildungsbiografischen Begleitung.

Der AK Bildung zieht aus diesen Erfahrungen folgendes Resümee:

Für eine nachhaltige Bildungsberatung benötigt man ein Netzwerk gut geschulter Bildungsberater, sowohl professionell, als auch auf Honorarbasis, als auch ehrenamtlich tätig.

Dieses Netzwerk muss so gut ausgebaut und belastbar sein, dass für jede problematische Bildungskarriere ein Pate zur Verfügung steht.

Ein Pate ist ein Berater, der einen jungen Menschen in einer problematischen Bildungskarriere bis zum erfolgreichen Abschluss persönlich begleitet. Ein Berater kann natürlich für mehrere junge Menschen Pate sein, doch muss er seine Belastung steuern können.

Uns erscheint eine gesunde Mischung aus professionell, auf Honorarbasis und ehrenamtlich tätigen Paten erstrebenswert.

3.4 Verankerung im Sozialraum

Die Paten sollten im jeweiligen Sozialraum leben, also in der Nachbarschaft ihrer Klientel.

Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Paten ist unabdingbar und muss - schon wegen des Datenschutzes (s. 3.6) - besonders abgesichert werden.

3.5 muttersprachliche Beratung der Eltern

"Muttersprache ist die Sprache des Herzens" (Elisabeth Sailer-Glaser im politischen Forum "Bildung - Sprache" in der vh ulm am 9. Nov. 2005). Dies begründet die inzwischen wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnis, dass Kinder im Kindergarten viel besser eine zweite Sprache (also bei uns Deutsch) lernen, wenn sie Begriffe in ihrer Muttersprache beherrschen.

Doris Fuchs hat das am 27. April 2006 dem Jugendhilfe-Ausschuss (s. 3.1) eindrucksvoll bestätigt: über 60 Prozent der Kinder in ihrem Kindergarten kommen aus Migrantenfamilien, aber alle sprechen im Kindergarten miteinander Deutsch - die Eltern jedoch muss man häufig in ihrer Sprache ansprechen; für sie ist ihre Sprache noch immer der Schlüssel zum Herzen ihrer Kinder.

Es ist daher evident, dass muttersprachliche Paten diesen "Schlüssel zum Herzen" in der bildungsbiografischen Begleitung ihrer Klientel nutzen sollten.

Das Paten-Netzwerk (s. 3.3) braucht daher unbedingt (i.d.R. ehrenamtlich oder auf Honorar-Basis tätige) muttersprachliche Berater.

3.6 Datenschutz

Die Paten begleiten ihre Klientel in deren sensibelster Beziehung, der Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Die Paten gehören gewissermaßen "zur Familie". Da hat man in den wesentlichen Dingen keine Geheimnisse voreinander - oder gerade doch?

Es ist durchaus vorstellbar, dass ein Pate mit seinem Zögling selbst vor dessen eigener Familie Geheimnisse wahren muss.

In jedem Falle ist Verschwiegenheit nach außen eine Selbstverständlichkeit.

Aber ebenso selbstverständlich muss ein Pate die wesentlichen Ereignisse und Bedingungen der Bildungsbiografie seiner Klientel kennen; werden ihm wesentliche Fakten verschwiegen, so wird man ihm das Recht zugestehen müssen, seine Patenschaft aufzukündigen.

Auch die Mitarbeit des Paten an der biografischen Mappe (s. 3.1) fällt unter den Datenschutz.

Hieraus folgt, dass es einer strikten schriftlichen Datenschutzvereinbarung bedarf, die zu Verschwiegenheit verpflichtet und Bedingungen präzise beschreibt.

Dass diese Fragen keineswegs nur ein Thema unseres Projekts "nachhaltige Bildungsberatung" sind, sondern grundsätzlich geklärt werden müssen, hat der Schülermord vom 17. Mai 2006 an der Urspringschule auf tragische Weise ins öffentliche Bewusstsein gebracht.

3.7 Schulung

Schon aus formalen Gründen - Einhaltung des Datenschutzes (s. 3.6) - muss es für die Paten ein Schulungsprogramm geben.

Darüber hinaus gibt es eine Fülle von Themen, die eine fundierte Schulung der Paten erfordern - angesichts der Vielfalt unseres Schulsystems nicht verwunderlich.

Man sollte sich aber keiner Illusion hingeben: wir können aus unseren Paten keine Bildungsexperten machen, die auf jede Frage die - womöglich auch noch einzig richtige - Antwort wissen.

Also sind Schulverwaltung und Schule gefordert; sie müssen als kompetente Ansprechpartner jederzeit zur Verfügung und Paten und deren Klientel Rede und Antwort stehen. Wir sehen eine wesentliche Funktion der Paten auch darin, die hohe Hemmschwelle ihrer Klientel vor einem Gang zum Klassenlehrer oder Schulleiter zu überwinden und diesen Gang zu begleiten.

Ein wesentlicher Teil der Schulung wird daher die psychologische Sensibilisierung der Paten für ihre schwierige Aufgabe bezwecken.

Daher wird es vor allem auch gruppendynamische Treffen geben müssen.

Die Ausarbeitung eines Schulungsprogramms sollte in Zusammenarbeit mit den bestehenden Bildungsberatungsstellen und dem Schulamt erfolgen.

3.8 städtische Koordinierungsstelle

Auch wenn sich viele ehrenamtliche Paten finden lassen werden, Vereine sich dieser Aufgabe annehmen oder sich gar ein eigener Verein gründet, der sich dieser Aufgabe ganz verschreibt - die Kontinuität einer nachhaltigen Bildungsberatung muss professionell gesichert werden.

Dies ist eine kommunale Kernaufgabe.

Der Grundbedarf nachhaltiger Bildungsberatung muss durch eine eigens dafür von der Stadt Ulm eingerichtete Stelle gesichert werden.

Die etablierten Bildungsberatungsstellen, insbesondere der Kirchen, werden einbezogen.

Ehrenamtliche Paten und Vereine, die sich dieser Aufgabe annehmen, sind willkommen; es sollte eine möglichst breite Bürgerbewegung werden.

Wie auch immer sich das in Ulm in Zukunft entwickeln wird: die Koordinierung und die Grundlast der Bildungsberatung, insbesondere aber die Sicherung der Kontinuität sind durch die Stadt Ulm selbst zu leisten.

3.9 Startphase

Die Paten sollten, wie wir begründeten (3.4), im Sozialraum verankert sein. Also wird die Bildungsberatung mit Initialveranstaltungen (Elternabende an den Schulen mit Beteiligung von Vereinen, Elterninitiativen etc.) in jedem einzelnen Ulmer Sozialraum gestartet.

Dabei wird man - gar nicht überraschend - feststellen, dass es in manchem Sozialraum schon vielfältige Aktivitäten (Weststadthaus, ZEBRA, EMU Böfingen, ...) gibt. Also gilt es, in der Startphase zwei Ziele zu erreichen:

  1. die übrigen Sozialräume ziehen mit tatkräftiger Unterstützung der Vorreiter und der Koordinierungsstelle nach.
  2. Das Paten-Netzwerk wird aufgebaut, die Paten werden geschult, und es etabliert sich über alle Ulmer Sozialräume ein Beratungsstandard.

Nachhaltigkeit bedeutet nämlich, dass von Start weg ein Standard etabliert werden muss.

Dann wird es in den Folgejahren darauf ankommen, diesen Standard ständig zu verbessern.

4 politische Rahmenbedingungen

4.1 Bildungsberatung als kommunale Kernaufgabe

Es ist keine Frage: Bildungsberatung zählt zu den kommunalen Kernaufgaben.

Das Thema "Bildung" ist in den letzten Jahren in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend wichtiger genommen worden - nicht zuletzt angeregt durch die Berliner Rede des Bundespräsidenten vom 21. September 2006 "Bildung für alle" (s. Quellen) - und das ist gut so!

Der Bundespräsident schließt seine Rede mit dem Appell: "Bildung für alle - das gelingt am besten, wenn sich alle dafür einsetzen, wenn wir alle uns bewegen. Was hindert uns? Auf geht's!"

Viele Städte in Deutschland machen sich auf, diesen Appell umzusetzen. Ulm ist in vielen Rankings ganz vorne dabei.

Im Ranking "Bildung" Spitze zu sein - das wäre ein lohnendes Ziel!

4.2 Ulmer Bildungsoffensive

Die Ulmer Bildungsoffensive wird von allen Seiten gelobt; insbesondere die angekündigte 2. Bildungsoffensive mit dem Schwerpunkt, den Berufseinstieg von Hauptschülern zu unterstützen, bekommt schon Vorschuß-Lorbeeren.

Die Bildungsoffensive mit nachhaltiger Bildungsberatung abzurunden und damit für die Zukunft abzusichern, ist das Gebot der Stunde.

4.3 Sparen für Bildung

Die öffentlichen Haushalte haben in den vergangenen Jahrzehnten Schulden angehäuft, wie es sich kein privater Haushalt leisten könnte. Schon die Absicht, keine weiteren Schulden zu machen, wird als Sparerfolg verkauft.

Es ist keine Frage, dass in den öffentlichen Haushalten endlich ernsthaft gespart werden muss.

Gerade deshalb muss aber die Frage gestellt werden:

Wofür sparen wir?

Natürlich: um unseren Enkeln nicht auf der Tasche zu liegen.

Das soll unseren Kommunalpolitikern nicht verwehrt - im Gegenteil: ins Gewissen geschrieben werden.

Sie sollten sich aber unzählige Großeltern zum Vorbild nehmen, die ihr Erspartes ihren Enkeln geben ("wir brauchen's nimmer"):

Was in hartem Sparkurs erwirtschaftet wird, muss - endlich - in die Bildung fließen - wohin sonst?

5 Quellen

AK Bildung Sitzungsprotokolle 2006 - 07
Bundespräsident Horst Köhler "Bildung für alle" - Berliner Rede vom 21. Sept. 2006.
Deutscher Bildungsserver www.bildungsserver.de: umfassende Sammlung aller Schulgesetze, Veröffentlichungen der Kultusministerien und Forschungsinstitute etc.
Deutsch-Türkische Gesellschaft Ulm www.dtg-ulm.de: mit Pressespiegel, Publikationen, Linkliste.
Kultusportal Baden-Württemberg www.km-bw.de Links: "Kindergärten", "Orientierungsplan": Orientierungsplan für Bildung und Erziehung für die baden-württembergischen Kindergärten.
Picht, Georg Die deutsche Bildungskatastrophe, Walter Verlag, Olten 1964.
Pieper, Friedrich "Bildung ohne Barrieren" - Thesen zum politischen Forum in der vh ulm am 29. Nov. 2006.
Stadt Ulm, Abt. Städtische Kindertageseinrichtungen "Bildung Orientierung geben". Qualifizierungsprogramm zum Orientierungsplan für Bildung und Erziehung für die baden-württembergischen Kindergärten 2007-08.
Stadt Ulm, Jugendhilfe-Ausschuss "Sozialraum-orientierte Jugendhilfeplanung in Ulm". Dokumentation der Fachtagung am 10.02.2004
zum Vergleich:
Botschaft von Finnland in Berlin www.finnland.de Link: "Bildung"
Französische Botschaft in Deutschland Das französische Bildungssystem
Großbritannien - offizielle Seite in Deutschland Bildung in GB
Norwegen - die offizielle Seite in Deutschland Zahlen und Fakten über das norwegische Bildungssystem
Schüleraustausch www.schueleraustausch.info/