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Loccumer Thesen 1988

Technik - Wandel - Steuerung
Thesen

Technologische Innovation und gesellschaftlicher Wandel
aus der Sicht eines Informatikers
Thesen: Ev. Akademie Loccum 14. - 16. Okt. 1988
Prof. Friedrich Pieper, Ulm


Themenbereiche:

    I. Innovation und Akzeptanz
    II. Informations- und Kommunikationstechnik
    III. Technische Zuverlässigkeit
    IV. Gesellschaftlicher Wandel
 

I. Innovation und Akzeptanz

Alle Errungenschaften unserer Zivilisation, alle Kulturprodukte waren jede(s) zu einem bestimmten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte innovativ.

Innovation ist Motor und Meßlatte unserer Kultur.

These 1.1: Technologische Innovation ist als Spezialfall der kulturellen Evolution nicht aus der Kulturgeschichte herauszutrennen.

Jede innovative Leistung setzt auf vorausgegangenen Kulturleistungen auf. Die Vermittlung von Kulturtechniken und -inhalten in einem organisierten Bildungssystem ist Voraussetzung für die weitere kulturelle Evolution.

These 1.2: Ohne Tradition keine Innovation.

Es ist daher nicht nur legitim, sondern folgerichtig und notwendig, technologische Innovation aus unserer kulturellen Tradition zu beurteilen.

Innovative Leistungen werden von Menschen erbracht, von kreativen Kulturschaffenden (Künstlern, Literaten, Ingenieuren, ..). Damit ergibt sich bei diesen Kulturschaffenden und bei deren Mitmenschen in mehrfacher Hinsicht ein Akzeptanzproblem.

Aus These 1.2 folgt, daß jeder Kulturschaffende seine kulturelle Tradition freiwillig oder widerstrebend, bewußt oder unreflektiert akzeptiert hat. Mit den hinlänglich bekannten Akzeptanzproblemen während des Tradierungsprozesses befasse sich weiterhin die Pädagogik.

Jeder Kulturschaffende hat jedoch, während er seine innovative Leistung hervorzubringen versucht, ein subjektives Akzeptanzproblem, das unerbittlich aus der Beschränktheit seines Geistes zutage tritt. Irgendwann wird eines seiner Werke seinen eigenen Ansprüchen nicht genügen, oder er fühlt sich seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen, oder er fürchtet, daß ihm seine Kompetenz bestritten wird. Subjektive Akzeptanzprobleme bei älteren Computeringenieuren beschäftigen zunehmend die Betriebspsychologen (vgl. Themenbereich II).

These 1.3: Subjektive Akzeptanzprobleme sind ein entscheidender Faktor in der technologischen Innovation.

Vgl. dazu Themenbereiche III und IV.

Darüberhinaus ist jedes innovative Produkt einer Bewertung durch die Menschen ausgesetzt, für die und von denen es hervorgebracht wurde. Dies ist das objektive Akzeptanzproblem. Häufig fällt diese Bewertung durch die verschiedenen Gruppen (insbesondere zwischen Produzenten, Konsumenten und unbeteiligt Betroffenen) kontrovers aus.

Auto-Aufkleber von Ingenieuren der Kraftwerks-Union in Erlangen:

"Wozu Kernkraftwerke? Bei uns kommt der Strom noch aus der Steckdose!"

These 1.4: Die Diskussion objektiver Akzeptanzprobleme ist eine permanente Notwendigkeit.

These 1.5: Die Akzeptanz-Diskussion ist eine offene Veranstaltung, an der sich jeder seiner Kompetenz entsprechend beteiligen kann.

Daß diese Diskussion permanent zu führen ist, heißt nicht, daß sie im Einzelfall kontrovers bleiben sollte. Ziel ist selbstverständlich in jedem Einzelfall der Konsens.

These 1.6: Bleibt bei der Akzeptanz-Diskussion einer konkreten Innovation der Konsens auf Dauer aus, so besteht die Gefahr, daß sich diese Innovation im öffentlichen Bewußtsein verselbständigt und daß sie irrational besetzt wird.

Ein innovatives Objekt, das sich derart verselbständigt, wird dann selbst als Gefahr gesehen, so, als sei es nicht von Menschen geschaffen oder als seien nicht konkrete Menschen für seine Herstellung und Anwendung verantwortlich.

These 1.7: Angst vor Technik ist irrational und nützt denen, die mit Mitteln der Technik Macht ausüben. Angst vor Machthabern steht dem Mut zur Kontrolle und zur Verantwortung entgegen.

II. Informations- und Kommunikationstechnik

Innovationen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik spielen in der Gesamtheit der technologischen Innovationen immer schon eine Sonderrolle. Weil sie jeweils eine stückweise Verbesserung des zwischenmenschlichen Informationsaustauschs bewirken, verbessern sie auch den Informationsaustausch über technologische Innovationen. Sie sind daher Meta-Innovationen. Daraus ergeben sich einige Konsequenzen:

These 2.1: Die Akzeptanzdiskussion von Innovationen der Informations- und Kommunikationstechnik befaßt sich nicht mit der prinzipiellen Frage "ob oder ob nicht", sondern mit den Modalitäten der Anwendung.

Im Gegensatz dazu befaßt sich z.B. die Akzeptanzdiskussion der Kernkraft genau mit dieser Grundsatzfrage "ob oder ob nicht".

These 2.2: Die Anwendungsmodalitäten erfordern einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Sie führen nur dann zu neuen allgemein akzeptierten Kulturtechniken.

Ohne Einführung der Schulpflicht hätte Gutenbergs Erfindung nicht so erfolgreich werden können.

These 2.3: Die Innovationen der Informations- und Kommunikationstechnik beschleunigen den Technologietransfer.

Immer schneller werden immer mehr Neuigkeiten bekannt gemacht. Die Kapazität des menschlichen Gehirns, dessen Verarbeitungsgeschwindigkeit und unsere Auffassungsgabe sind seit langem unverändert. Auch eine gewisse Verweilzeit neuer Informationen in der öffentlichen Diskussion kann nicht unterschritten werden, damit die Bedeutung der Information verdaut werden kann. Daraus folgt:

These 2.4: Je schneller und dichter der Informationsfluß, desto höher der Informationsverlust.

Auch vieles Wissenswertes aus unserer kulturellen Tradition haben wir vergessen.

Das bisher Gesagte gilt auch für die kulturelle Evolution der Vergangenheit. Das Evolutionstempo mag sich kontinuierlich bis heute beschleunigt haben. Damit erklärt sich aber nicht die explosionsartige Beschleunigung der letzten Jahre.

These 2.5: Wir befinden uns in einer Kulturrevolution, hervorgerufen durch die Anwendung der Computertechnologie in der Informations- und Kommunikationstechnik.

Computer reproduzieren menschliche Intelligenzleistungen tausendfach ohne menschliches Zutun. Wir stecken eine Diskette in den PC und erfahren in Sekunden, was sich Heerscharen von kreativen Programmierern jahrelang ausgeschwitzt haben.

Ein Buch mußte man noch selber lesen.

These 2.6: Die Erscheinung von Intelligenz beschränkt sich nicht auf menschliche Gehirne.

These 2.7: Kultur reproduziert sich mittels der Computertechnologie selbst ?

These 2.8: Priester der Technik sind falsche Propheten.

III. Technische Zuverlässigkeit

These 3.1: Je komplexer ein technisches System, desto höher die Ausfallwahrscheinlichkeit einer beliebigen System-Komponente.

Man kann durch Mehrfachinstallation sicherheitsrelevanter Komponenten die Ausfallwahrscheinlichkeit des Gesamtsystems reduzieren. Es gibt äußerst raffiniert durchdachte fehlertolerante Systeme. Jedoch:

These 3.2: Es gibt keine 100 % Sicherheit.

In großen technischen Systemen, insbesondere Computer-Betriebssystemen hat man daher den Begriff "Mean Time between failures (MTBF)" eingeführt. Ein neu auf den Markt gebrachtes Betriebssystem hat häufig eine MTBF von wenigen Stunden oder Tagen. Ein System mit einer MTBF von mehreren Monaten gilt als "sehr sicher".

Fehler in Computersystemen sind überwiegend Software-Fehler. In großen Systemen rechnet man mit hunderten solcher Fehler. Eine eigene Disziplin der Informatik beschäftigt sich nur mit der statistischen Abschätzung der Fehlerhäufigkeit in Software.

These 3.3: Kein Computer-Ingenieur programmiert fehlerfrei.

Software-Fehler erkennt man durch Tests. Es gibt riesige Software-Pakete, die nur dem Aufspüren von Software-Fehlern dienen. Aber schon vor 20 Jahren stellte der Computer-Pionier Dijkstra fest:

Durch Test zeigt man die ANwesenheit, nie die ABwesenheit von Fehlern.

Daher muß man leider feststellen:

These 3.4: Von keinem einzigen größeren Software-Paket ist zuverlässig bekannt, ob es fehlerfrei ist.

Vielen solcher Software-Pakete vertrauen wir lebenswichtige sicherheitsrelevante Aufgaben an. Da große Software-Pakete von hunderten Ingenieuren in jahrelanger Arbeit implementiert werden, folgt:

These 3.5: Ein großes Software-Paket kann von keinem einzelnen Menschen mehr vollständig durchschaut und verstanden werden.

Dies gilt heute bereits für tausende Software-Pakete.

Zur Einordnung von Tests:

These 3.6: Jedes große System muß unbedingt getestet werden, bevor es in der Praxis eingesetzt werden kann. Tests sind nur wegen menschlicher Fehler notwendig.

MURPHY's Law: if anything may go wrong, it will.

IV. Gesellschaftlicher Wandel

Das Tempo der technologischen Innovation ist atemberaubend. Führende amerikanische High-tech-Konzerne machen bis zu 70% ihres weltweiten Umsatzes mit Produkten, die jünger als 2 Jahre sind. Technisches Wissen, das Studenten der Technischen Informatik während ihres Studiums vermittelt wird, müßte zu mindestens 50% zu Beginn eines solchen Studiums noch nicht bekannt sein.

These 4.1: Das Innovationstempo erfordert einen neuen Umgang mit Information. Ingenieure lösen neue Aufgaben nicht mehr überwiegend mit ihrem bisherigen Wissen, sondere müssen sich durch gezieltes Sammeln neuer Information für die jeweilige Aufgabe kompetent machen.

Wer Industrieprojekte kennt, wird bestätigen, was nur auf den ersten Blick nach These 4.1 paradox erscheint:

These 4.2: Für Ingenieure war Berufserfahrung noch nie so wichtig wie heute.

Berufserfahrung ist heute weit mehr als die Ansammlung von Faktenwissen. Sie umfaßt Teamfähigkeit, Sicherheit im Umgang mit Informationsquellen, die Fähigkeit, neue Informationsquellen zu erschließen, vor allem aber die Einsicht in die eigenen Grenzen. Im beruflichen Umfeld neuer Technologien besteht der wichtigste Wandel offenbar darin, daß kein Fachmann mehr über genügend Faktenwissen zur Lösung neuer Aufgaben verfügt. Gleichzeitig ist das jeweils benötigte Faktenwissen aber aktuell öffentlich verfügbar. Hieraus entsteht einerseits das subjektive Akzeptanzproblem (vgl. These 1.3), andererseits:

These 4.3: Information wird zum wichtigsten Wirtschaftsgut.

Der neue Umgang mit Information muß erst noch gelernt und organisiert werden. Obwohl die technischen Möglichkeiten und Verfahren längst vorhanden sind, sind wir noch weit davon entfernt, relevantes Fachwissen abrufbereit (z.B. Literatur-Datenbanken) ausreichend zur Verfügung zu stellen. Wo es aber schon Inforrnationsdienste gibt, werden sie nicht ausreichend genutzt. Auch die Einsicht, daß man durchaus rationeller arbeiten könne, hindert die meisten Menschen nicht daran, an unrationellen Gewohnheiten festzuhalten.

These 4.4: Das Innovationstempo wird durch menschliche Trägheit auf ein erträgliches Maß reduziert.

Das Problem des gesellschaftlichen Wandels ist damit aber nicht aus der Welt.

These 4.5: Die Gesellschaft muß ihr Verständnis von Kommunikation neu definieren.

Sie muß dies aus vielerlei Gründen, die hier nur teilweise skizziert wurden. Den Hintergrund muß man wohl in der Tatsache sehen, daß es der Menschheit mit der Computertechnologie gelungen ist, Intelligenzleistungen außerhalb menschlicher Gehirne zu reproduzieren.

These 4.6: Die logischen Grundlagen der künstlichen Intelligenz sind dieselben formalen Regeln, die auch der menschlichen Sprache zugrunde liegen.

Computer-gestützte Kommunikation verfügt daher immanent über künstliche Intelligenz. Dies ist der wissenschaftliche Hintergrund für These 4.5. Vgl. These 2.5:

These 4.7: Der gesellschaftliche Wandel kommt einer Kulturrevolution gleich.

Das heute noch vorherrschende Verständnis einer "zweiten oder dritten industriellen Revolution" oder eines "nachindustriellen Zeitalters" deutet die tatsächliche Entwicklung zumindest unvollständig. Es sieht die Menschen und die Gesellschaft zu sehr in einer passiven Rolle, gewissermaßen als Opfer einer zwangsläufigen Entwicklung.

Es wird wahrscheinlich zutreffen, daß es in einer solchen "nachindustriellen Gesellschaft" noch Industrieproduktion geben wird, jedoch weitgehend ohne menschliche Arbeitskraft. Es wird auch zutreffen, daß für die Menschen, die ihre Arbeitsplätze verlieren, eine neue Beschäftigung zu definieren ist.

Wir müssen uns aber von der Vorstellung trennen, daß die neuen Formen der Güterproduktion noch wie die heutigen Produktionsformen wesentlich unser tägliches Leben prägen werden.

These 4.8: Nicht die Produktionsformen bestimmen künftig den gesellschaftlichen Wandel, sondern die Gesellschaft wird nach einem kulturellen Wandlungsprozeß ihren Umgang mit neuen Technologien neu zu definieren haben.

These 4.9: Daraus erst werden neue gültige Maßstäbe entstehen, nach denen die Gesellschaft Technikfolgen im Einzelfall bewerten kann.

Heute ist in der Tat noch schwer vorstellbar, daß Argumente wie Arbeitsplatz-Sicherung, Kostendämpfung etc. in den Hintergrund treten könnten vor Argumenten, die wir doch schon nach unserem heutigen Kenntnisstand häufig als wichtiger einordnen müßten.