Was und wo ist Heimat?
Gedanken eines Preußen mit schwäbischem Migrationsvordergrund
In Ulm sind kürzlich (Mai - Oktober 2008) die "Heimattage Baden-Württemberg"
mit dem Motto: "Ulm 2008 - unsere Stadt ist Heimat für alle"
gestartet worden. Da fragte
man mich, und ich fragte mich dann auch, wo meine Heimat sei und was sie mir
bedeute.
Und ich merkte, dass diese Frage gar nicht so einfach zu beantworten ist.
Oder auch ganz einfach, denn ist es nicht klar? Meine Heimat ist doch Ulm.
- oder?
Also fragte ich meine Frau.
Sie ist für mich Ulmerin (sie lebt seit 1951 in Ulm) und machte mich,
als ich 1972 an die Hochschule Ulm kam, zum Ulmer. Aber sie sagt mir, sie
habe zwei Heimaten (gibt's da überhaupt den Plural?) - ihren Geburtsort
Vecsés und Ulm. In Vecsés waren wir gemeinsam mindestens 40 mal, und jedes Mal
bekam sie leuchtende Augen, wenn sie dort mit Bekannten und Verwandten
sprach, mir gelegentlich aus dem Ungarischen dolmetschte, und auch feuchte Augen,
wenn gesungen und musiziert wurde. Sie war 9 Jahre alt, als sie 1946 mit ihrer
Familie ausgewiesen wurde. Ihre erste Heimat habe ich dennoch mit
ihr lieben gelernt, die ungarische Küche ebenfalls: 36 Rezepte
aus Ungarn habe ich bisher (2008) erprobt und in meine Rezeptdatenbank gestellt,
ihr
Lieblingsdessert kreierte ich als Hommage an meine Frau.
Dagegen war ich noch nicht einmal 4 Jahre alt, als meine Mutter mit meinen
beiden Schwestern und mir kurz vor Weihnachten 1944 Königsberg verließ. Ich war nie
wieder dort. Königsberg meine Heimat? Allenfalls abstrakt oder mit Respekt
vor den Menschen, die diese Stadt einmal zu einem Zentrum der Aufklärung
und des freiheitlichen Bürgersinns gemacht hatten.
Die 6 Jahre danach in Barmstedt nördlich von Hamburg (das Städtchen verdoppelte
seine Einwohnerzahl durch die Flüchtlinge) in einer Notwohnung,
von den eingeborenen Kindern als "Ruski" geschnitten und verprügelt, Hunger,
Wut, Armut, aber auch Glücksgefühle (als mein Vater wieder kam)
- heute fast ein schwarzes Loch in der Erinnerung. Heimat? Nein danke.
So etwas ähnliches wie Heimat wurde dann bis zum Abi 1961 Bremen;
bis heute bin ich sogar noch Werder-Fan. Aber in Relation zu den
jetzt 36 Jahren in Ulm? Immerhin verblasste die Jugend in Bremen weniger als die
11 Jahre danach in Erlangen. Warum bedeutet mir Ulm soviel mehr?
Erst heute - im Ruhestand - beginne ich, gelegentlich darüber nachzudenken.
Ich meine nicht die emotionalen Gründe - die sind elementar und jede Sekunde
präsent, und natürlich für mich ebenso wichtig wie anderen Menschen,
die wie ich das Glück haben, in der Familie ihren Lebenssinn gefunden zu haben.
Natürlich stiftet Familie Heimatgefühl. Wenn mich, den "Nei'gschmeckten", die
Enkel "Ulmopa" heißen, dann muss ich mich doch als Ulmer fühlen!
Heute suche ich dennoch gelegentlich nach Gründen dafür, warum ich mich
in Ulm auch in meinen beruflichen und gesellschaftlichen Engagements wohl
fühlen konnte und kann. Also "Ulm - die Wohlfühlregion"? Auch das vielleicht
ein wenig. Immerhin sind in meiner Rezeptdatenbank 35 der ca. 175
schwäbischen Gerichte von mir selbst erprobt (die übrigen von meiner Frau
und meinen Kochfreunden),
wohingegen ich gerade einmal 9 Rezepte von der Waterkant und genau 1
aus Ostpreußen (natürlich
Königsberger Klopse)
eingestellt habe.
Wenn ich mir das so überlege, dann sind es schon die Ulmer, meine
Freunde hier im Ländle, die mir ein Heimatgefühl
auch außerhalb der Familie gaben und geben. Man scheut sich ja, Pauschalurteile
über Gruppen abzugeben, denn jeder Mensch ist doch ein Unikat. Aber
diese Unikate weisen in der Gruppe doch immer wieder besondere Gemeinsamkeiten
auf - prägt uns nicht auch unsere Umgebung? Ich behaupte einfach
mal aufgrund 36-jähriger Erfahrung: Ulmer sind besonders weltoffen,
tolerant und zupackend; so, als würden sie einem sagen (ich versuch's gar
nicht erst auf schwäbisch, was ich wohl nimmer lernen werde): "steh da nicht rum,
pack lieber mit an!" Und wenn man denn mit anpackt, dann gehört man dazu,
ohne Umschweife. Deshalb fasziniert mich am Ulmer Stadtleben, so lang ich hier
lebe, immer schon die über 600 Jahre alte Schwörformel, die der Ulmer OB jedes Jahr
am Schwörmontag vor der versammelten Bürgerschaft wiederholt:
"... Reichen und Armen ein gemeiner Mann zu sein in allen
gleichen, gemeinsamen und redlichen Dingen ohne allen Vorbehalt".
Ob die Ulmer diese Tradition für sich wirklich verinnerlicht haben oder
nicht, ist vielleicht gar nicht so wichtig. Vielleicht ist es eher umgekehrt,
dass nämlich ihre Repräsentanten den ausgeprägten Ulmer Bürgersinn immer schon
zu respektieren hatten. Sei's drum - meine Erfahrungen im Umgang mit Ulmern
waren überwiegend positiv und haben mich vermutlich geprägt.
Z.B. meine Studenten aus Ulm und Umgebung.
66 Semester habe ich diese jungen Leute an der Ulmer Hochschule für Technik
erlebt - ihre Motivation, Zielstrebigkeit, Teamfähigkeit, der Umgang mit
ihnen auf Augenhöhe; das war Tag für Tag (bis auf ganz wenige Ausnahmen) für
mich unglaublich motivierend (s. meine betreuten
Diplomarbeiten).
Das Jammern mancher Zeitgenossen über "die
heutige Jugend" habe ich nie verstanden. Als ich Anfang der 90er Jahre
wiederholt in den neuen Bundesländern zu tun hatte, hatte ich Gelegenheit zum
Vergleich. In Dresden, Ilmenau, Rostock, Wismar, Zwickau traf ich ebenfalls auf
motivierte junge Menschen, die gemeinsam ihr Leben meistern wollten. Doch
in anderen Städten waren die Eindrücke
so niederschmetternd, dass ich mir sagte: "was soll ich hier?"
Was also ist Heimat?
Heimat ist für mich nicht nur Familie an einem festen Ort, sie ist vor allem
auch Gemeinschaft mit anderen Menschen, um gemeinsame
Sache zu machen. Und für mich sind das in Ulm nicht nur meine
bodenständigen schwäbischen Ulmer, die ich als Freunde gewann,
sondern auch viele "nei'gschmeckte" Freunde aus anderen Regionen in Deutschland,
aus Texas, Ungarn, der Türkei, Griechenland, England, Frankreich, Italien, ...,
die hier wie ich ihre Freunde und damit ihre Heimat fanden.
Heimat ohne die Menschen, mit denen man dort gemeinsame Sache macht oder
machte, ist tot. Seit Freunde und Verwandte in Vecsés so rar geworden sind,
zieht's meine Frau nicht mehr dorthin. Was sollte ich denn eigentlich noch in
Kaliningrad zu suchen haben?