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slow move - Leben ohne Auto

von slow food zu slow move
15 Jahre ohne Auto

4 Wochen ohne Auto
hieß eine Aktion, die kürzlich (im September 2008) im Rahmen der "Ulmer Energiewochen" stattfand. Mehrere Familien verpflichteten sich, 4 Wochen ohne Auto auszukommen. Fast täglich wurde in der Tageszeitung berichtet, was diese Familien mit Fahrrad oder ÖPNV erfuhren, wie es ihnen auf Fußwegen ergangen ist, was sie an Entbehrungen zu ertragen hatten. Am Ende waren alle froh, wieder mit ihren Autos wie gewohnt mobil zu sein.
In den "Ulmer Energiewochen" ging es natürlich um Nachhaltigkeit. Nach 4 Wochen ohne Auto merkt man, dass man wirklich nicht aufs Auto verzichten kann (oder mag). Der nachhaltige Lerneffekt dieser Entbehrung ist wohl "nie wieder ohne Auto".
Wie ich mir so meine Gedanken zu den Berichten über diese Aktion machte, versuchte ich, mich zu erinnern, wie es uns seinerzeit - vor 15 Jahren - ging, als wir beschlossen, aufs Auto zu verzichten.

Ein neuer Lebensabschnitt
ist wohl notwendige Voraussetzung für einen solchen Entschluss. Die Kinder waren aus dem Haus, meine Frau erfüllte sich ihren Traum und eröffnete ihr Ladengeschäft mit alten Puppen und Kleinantiquitäten (die "Antik Vitrine" in der "Alten Münz"), wir zogen zu zweit in die Innenstadt. Das war 1987.
Es wäre uns damals nicht im Traum eingefallen, aufs Auto zu verzichten. Allerdings schloss ich den neuen Leasingvertrag mit einer deutlich geringeren Jahres-km-Zahl ab. Aber erst nach Ablauf dieses Leasing-Vertrages sollte die Zeit reif sein, und sie reifte gewissermaßen auf Umwegen:

Neue Lebensgewohnheiten
prägen einen neuen Lebensabschnitt. Das Leben zu zweit krempelte unser Leben um. Die Hektik der wilden Jugendjahre unserer Kinder war raus, wir hatten Zeit und fingen an, diesen Zustand zu genießen. Für ihre "Antik Vitrine" hatte meine Frau ihren 3/4-Job aufgegeben, ich ging mehr und mehr dazu über, meine Vorlesungen am heimischen PC vorzubereiten, und ich übernahm nach und nach auch die Regie in der Küche, damit der Tisch gedeckt war, wenn meine Frau aus ihrem Laden heim kam. Und in diesen gemeinsamen Stunden genießen wir die Langsamkeit. Der ungarische Philosoph György Konrád antwortete auf die Frage, was ein Intellektueller sei:
"Ein Intellektueller ist ein Mensch, der Genuss findet im Denken".
Meine Variante: "Ein Gourmet ist ein Mensch, der Genuss findet in der Langsamkeit".

Eine Entscheidung reift,
wenn man ihr Zeit lässt und man diese Zeit hat, und das wären dann glückliche Umstände; denn ist es nicht allzu oft so in unserem Leben, dass wir Entscheidungen ad hoc treffen müssen?
Für unseren Abschied vom Auto hatten wir glücklicherweise diese Zeit. Wir hatten schon gelernt, Langsamkeit zu genießen. Und so fiel uns, als 1993 der Leasing Vertrag fürs Auto auslief, der Entschluss nicht schwer, zunächst einmal aufs Auto zu verzichten. Und doch währte die Leichtigkeit dieses Entschlusses nur wenige Tage. Zu sehr hatten wir über 25 Jahre die Bequemlichkeit allzeit verfügbarer Mobilität als selbstverständlich verinnerlicht.

Die Konsequenzen
aus dem Autoverzicht, wie sie einfach eintraten oder zu ziehen waren, wurden erst nach und nach deutlich:
Ich mußte morgens eine halbe Stunde früher aufstehen, um meinen Bus zur Hochschule zu bekommen. Der DING Fahrplan gehört seither zur regelmäßigen Lektüre.
Den Wochenmarkt auf dem Münsterplatz und Läden in der Innenstadt hatten wir zuvor schon häufig zu Fuß angesteuert; von jetzt an sind dies die einzigen Einkaufsquellen. Man sieht uns zu Fuß mit dem Einkaufswägelchen durch die Innenstadt ziehen, und unsere Wege haben wir optimiert. Einkaufszentren an der Peripherie besuchen wir seither nur selten und nur für genau geplante Einkäufe (hin mit Bus, zurück mit Taxi).
Getränkekisten lassen wir uns alle 2 Wochen ins Haus liefern.
Arztpraxen, Physiotherapeut, Apotheke, Fitness Studio haben wir im Laufe der Zeit so ausgesucht, dass wir sie zu Fuß erreichen.
Häufig benutze ich auch das Fahrrad, aber ich bin bis heute "Schön-Wetter-Radler" geblieben.
Kaum zu glauben, aber auch die Auswahl der Klamotten und Schuhe wird vom autolosen Leben geprägt: Man braucht Laufschuhe, einen warmen Wintermantel, Regenschirm, etc. etc.

Die Vorteile
lagen natürlich auch bald auf der Hand:
Die täglichen Wege zu Fuß stellen nicht nur den Hausarzt zufrieden, sie tun richtig gut - und das umso mehr, je älter wir werden.
Kostenvorteile sind evident:
Die monatlichen Kosten für Taxi und Bus erreichten nicht einmal unsere frühere Garagenmiete. Mein Fahrrad kostete gerade einmal 3 Auto-Leasingraten.
Auch wenn dies damals für unsere Entscheidung kaum eine Rolle spielte: Heute können wir natürlich auch auf unsere CO2-Bilanz stolz sein.

Die Gewöhnung
an das Leben ohne Auto dauerte dennoch fast 2 Jahre. Immer wieder liebäugelten wir mit dem Gedanken, uns doch wieder ein Auto anzuschaffen. Wirtschaftliche Vernunft und praktische Gründe (woher den Stellplatz nehmen?) hielten uns davon ab. Und wir sagten uns: Wenn wir's wirklich brauchen, mieten wir uns ein Auto (so mehrmals geschehen für Urlaubsreisen). Auch können wir uns ja jederzeit ein Taxi rufen.
Nach 2 Jahren war dann endlich der Zustand erreicht, dass unser Leben ohne Auto "ganz normal" ist - so normal, dass wir gar nicht daran denken, uns je wieder ein Auto anzuschaffen. Wenn man uns ein Auto schenkte, würden wir's am nächsten Tag verkaufen oder verschenken.

Fazit: die Rahmenbedingungen müssen stimmen,
wenn man tatsächlich ohne Auto leben möchte. Und nach unserer Erfahrung müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

  • guter Nahverkehrsanschluss: Die Gegend, in der man wohnt, muss mit regelmäßigen Bus- oder Bahnverbindungen versorgt sein.
  • gute Infrastruktur: alles, was man zum täglichen Leben braucht, muss in der Nähe der Wohnung angeboten werden oder mit Bus oder Bahn in kurzem Takt erreichbar sein.
  • Langsamkeit: man muss akzeptieren, dass manche Wege länger dauern. Wenn man die Langsamkeit zu genießen, gelernt hat, macht einem das nichts aus - im Gegenteil. Für eine Familie mit ständig wechselnden Dates der Kinder ist das aber kaum erreichbar; und im Umkehrschluss zwingt wirtschaftliche Not zur Langsamkeit.